Kartellamt: Sterbehilfe für den stationären Handel?

Es ist paradox: ausgerechnet das Kartellamt kollaboriert mit Kartellen. Viele Fachhändler werden daran zugrunde gehen, manche vielleicht zu neuer Blüte auferstehen.

Kennen Sie Huntington? Samuel Phillips Huntington? Selten erreichte ein Politikwissenschaftler eine Bekanntheit und Breitenwirkung wie er. Ursächlich sind seine ebenso pointierten, wie umstrittenen Thesen vom ‚Kampf der Kulturen’, die sich insbesondere in seinem gleichnamigen Buch wiederfinden. Kurz gesagt: dort, wo sehr gegensätzliche Kulturen und Ideologien aufeinander treffen, entstehen Konflikte – insbesondere, wenn sich mindestens eine davon expansionistisch verhält.
Gegenstand seiner Betrachtung waren primär interkulturelle bzw. internationale Konflikte. Mit einigem Fug und Recht kann man die unübersehbaren Umwälzungen im Handel aber ebenfalls als einen Kulturkampf ansehen. Die Analogien sind mitunter frappierend.

Der Revolution im Handel ging – wie so häufig – eine technische Revolution voraus. Ihr Name lautet ‚www’. Anfänglich gerne als Modeerscheinung belächelt, hat sich in den letzten eineinhalb Dekaden der E-Commerce in revolutionärer Geschwindigkeit entwickelt. Er ist nicht bei einer bloßen Distributionsalternative stehen geblieben.

Transparenz

Der fundamentale Quantensprung ist die Transparenz, die mit dem Internet Einzug gehalten hat. Suchmaschinen wie Google werfen im Millisekundenbereich aus Milliarden von Internetseiten das gesuchte Produkt oder die gewünschte Leistung heraus. Zu fast allem und jedem finden sie Informationen und Nutzer-Bewertungen. Sie finden auch plötzlich interessante Produkte und Händler, von deren Existenz Sie vorher nicht einmal etwas wussten.
Nicht zuletzt hat sich die Vergleichbarkeit der Preise potenziert. Unter zig verschiedenen Anbietern eines Produktes entscheiden im Netz oft nur noch Cent-Beträge über Kauf oder Nicht-Kauf. Es wird primär das rationale Kalkül der Menschen angesprochen: „Wo bekomme ich die Ware am billigsten?“. Der Wirtschaftswissenschaftler jubiliert, kommt dies dem idealen Markt, von dem er immer träumt, doch schon sehr viel näher.

Umerziehung – Stufe 1

Der E-Commerce – und Szene-Größen wie Amazon und Ebay im Besonderen – hat aber noch viel mehr vollbracht. Wo früher die Qualitätsmerkmale des Handels standen, also Beratung, Qualität, Vertrauen, personenbezogene Loyalität, hat er breiten Kundenschichten die Kultur des ‚Finden & Vergleichens’ implantiert. Er hat Sie bzw. uns erzogen, er hat unser Verhalten nachhaltig verändert.
Was ist der erste Impuls zunehmend vieler Menschen unter uns, wenn wir heute ein Bedürfnis haben? Wir schauen im Netz, wir holen uns dort die ersten Informationen. Wir schauen nach, ob Amazon das gewünschte Produkt im Sortiment führt. Wir prüfen nach, wo es am billigsten zu haben ist. Es gibt ja genug Vergleichsportale. Uns diesen ersten Impuls einzuimpfen, nämlich als erstes ins Netz zu gehen, das war eine Kulturrevolution!

Amazon ist sogar in der komfortablen Lage, auf konventionelle Werbung (im Sinne von unpersonalisierter, z.B. Print- und Fernsehwerbung) verzichten zu können. Das Bewusstsein für die Marke ‚Amazon’ im Sinne eines ‚Vergleichsportals mit angeschlossener Einkaufsmöglichkeit’ und die daraus entstehende Frequenz ist durch unsere ‚Umerziehung’ schon da.
Die Energie wird, statt für Werbung, vielmehr genutzt, um mit den Waffen Transparenz (Finden) und Preis (Vergleichen) dem konventionellen, stationären Handel weitere Marktanteile abspenstig zu machen. Und das ist nicht untertrieben: Geräte wie Amazons ‚fire phone’ sind ein unverblümter Frontalangriff. Zwei Funktionsbeispiele aus mehreren: Das Gerät erkennt mit einem Klick das Produkt, dass Sie vor sich im Laden sehen und es ermittelt sogar aus Photos ihren Standort – der Nutzer bekommt dazu passende Werbung. Unschwer zu erraten, dass die Funktionen mit dem Amazon-Shop verknüpft sind.¹ Die (Preis-)Transparenz wird damit immer totaler.

Daneben werden auch immer neue Produktbereiche für den Online-Handel erschlossen – selbst der Lebensmittelhandel ist davon nicht mehr ausgenommen. Etliche Projekte, auch mit Frischwaren und Lebensmitteln des täglichen Bedarfs, laufen bereits.

Umerziehung – Stufe 2

Was wir im Netz gefunden haben, das legen wir dann auch gerne in den virtuellen Einkaufskorb – es ist ja furchtbar einfach, mit ein paar Klicks ist es getan. Keine Notwendigkeit, sich umzuziehen und in die Stadt zu fahren.
Dennoch: für den eigentlichen Kauf gehen viele Menschen ins Geschäft. Es sind – noch zumindest – deutlich mehr, als im umgekehrten Fall. Einer Roland Berger-Studie zufolge ist der Umsatz durch Informationseinholung im Netz und anschließendem Kauf im Laden um etwa das 10-fache höher als der umgekehrt oft beklagte Fall des Showroomings oder – zu Deutsch – Beratungsklaus
Der E-Commerce setzt freilich alles daran, uns dieses Verhalten noch genauso abzutrainieren. Und der Aufwand, den man dort auf sich nimmt, uns den Trennungsschmerz zu versüßen, ist mitunter gigantisch: Bestellvorgang weiter vereinfachen (‚1-click-buy’), Lieferzeiten verkürzen (‚same day delivery’; man experimentiert sogar schon mit Drohnen), neue, noch präzisere Algorithmen finden, die die Vorlieben und Bestellungen prognostizieren, Kundenservice auszubauen… alles aufzuzählen würde hier zu weit führen.
Kurzum: es geht um Verführung und Service. All das dient der zweiten Stufe der Kulturrevolution, nach dem Finden & Vergleichen nämlich auch den Kaufentschluss & die Kundenloyalität in noch viel stärkerem Maße ins Netz zu verlagern. Stichwort Verführung: damit gerät auch eine Gruppe in das Blickfeld, die jetzt noch eine Domäne des stationären Handels darstellt, nämlich die der Bummler und Stöberer. Also jene, die sich kurzfristig, aufgrund einer ‚emotionalen Regung’ zum Kauf entschließen. Mehr als nur ein netter Beifang…!

Der E-Commerce fährt somit die klassische Strategie von Zuckerbrot (Verführung, Service) und Peitsche (Transparenz und Preis) – wie so viele gewiefte Strategen. Und mit dieser Strategie überrollt er momentan den klassischen Handel.

Die ‚Konterrevolution’ lässt auf sich warten

Der Online-Handel ist faktisch unumkehrbar. Aber wie will sich der stationäre Handel ein auskömmliches Terrain sichern? Wie setzt er sich zur Wehr?

In manchen Fällen gar nicht, sofern man Verächtlichkeit gegenüber dem Parvenü (Emporkömmling) aus dem Netz, Larmoyanz (Selbstmitleid) und den Ruf nach Investoren oder Vater Staat als Protegé nicht als Wehrhaftigkeit bezeichnen möchte.
Das traurige Drama um Karstadt, jüngst um eine Episode reicher geworden, gibt uns Auskunft, wie ein Unternehmen vergreist – Entwicklungen verschlafen, verkrustete Strukturen, interne Interessenskonflikte, Unbeweglichkeit und Lethargie bis in die Führungsspitze, Visionslosigkeit, ein ‚amorphes’ Sortiment und Tristesse als Ladenkonzept.

Die häufigste Variante des ‚Zur-Wehr-Setzens’ sind Sale-Aktionen, Rabattschlachten und Preiskrieg.
Führen wir uns kurz vor Augen: große Kostenblöcke des stationären Handels sind die Unterhaltung der Ladengeschäfte, der dazugehörigen Mitarbeiter und die Versorgungslogistik. Kostenblöcke also, die der Online-Handel nicht oder in nur sehr viel geringerem Umfang hat.
Wer diesen Preiskrieg auf Dauer gewinnt, ist also eine beinahe rhetorische Frage. Dennoch lassen sich viele Händler auf die Schlacht ein. Um halbwegs preislich konkurrieren zu können, bauen sie Personal ab, reduzieren den Service, schaffen sich teure Selbstbedienungsterminals an. Wenn ich mir die konsequente Entmenschlichung vieler Ladengeschäfte ansehe, dann ist der Prozess bereits voll im Gang. Ja, manche gehen sogar so weit, ihre Ware mit negativer Marge³ zu verscherbeln in der vagen Hoffnung, so Kunden (zurück) zu gewinnen. Blöd nur, dass das keine Kundenloyalität bringt. Wenn der Kunde derart auf das Preiskalkül konditioniert wird, dann ist er bei der nächstbesten Gelegenheit beim noch billigeren Konkurrenten – der wahrscheinlich aus dem Netz kommt.
Ich möchte nicht ausfallend werden, aber wie soll ich dieses Verhalten bezeichnen? Einfallslos? Naiv? Kurzsichtig? Oder gar dumm?
Um die Schizophrenie abzurunden, gibt es dann sogar noch Unternehmen, die gleichzeitig ein Vermögen für Werbung und Marketing ausgeben. Abgesehen davon, dass diese Instrumente in einem Umfeld der Reizüberflutung immer stumpfer werden, alimentiert man das bloße Erscheinen potentieller Kunden mit viel Geld, um diese dann allzu häufig im Laden dumm herum stehen zu lassen. Der Verkäufer wurde ja gerade entlassen. Oder ist selbst schon mit dem Ansprechen des Kunden hoffnungslos überfordert. Umsatz entsteht kaum einer, über Kundenbindung brauchen wir gar nicht erst reden. So werden aus potentiellen Kunden im wahrsten Sinne des Wortes ‚flüchtige Besucher’ gemacht.
Ein Beispiel aus dem wahren Leben: bei einer Befragung von Besuchern eines größeren Elektronikfachmarktes gaben etwa 75% davon an, das Geschäft mit einer mehr oder weniger konkreten Kaufabsicht betreten zu haben. Die Abschlussquoten schwankten zwischen 25 und 35%.4 Das heißt, zwischen Betreten und Verlassen des Ladens hat man deutlich über der Hälfte der Besucher als Käufer verloren! Und, wenn die Enttäuschung entsprechend tief sitzt, auch dauerhaft als Kunden. Das ist dramatisch! Und es kann mir keiner erzählen, dass dies nur eine Frage der Preise ist.
Die Zahlen mögen je nach Geschäft und Sparte variieren, aber die Tendenz und Grundproblematik ist überall die Gleiche!

Eine andere beliebte Spielart, sich zur Wehr zu setzen, ist, ebenfalls ins Netz zu gehen nach dem Motto: „Was die können, können wir auch!“.
Können die meisten aber nicht!
Die Gründe sind vielfältig. Zum einen ist der Markt längst aufgeteilt. Es gibt die großen Online-Vollsortimenter wie Amazon und die etablierten Spezialisten für die Nischen wie z.B. Flaconi für den Bereich Parfümerie oder Livingtools für Wohnaccessoires. Wer sich nicht schon längst online etabliert hat, für den ist es schwer und teuer, unter Milliarden von Internetseiten die notwendige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als Online-Marke anerkannt zu werden und somit ausreichende Frequenz zu schaffen. Weiterhin ist die Online-Käuferschicht inzwischen auch sehr viel Service gewohnt. Die ‚big player’ tun alles, was über das Netz an Kundenorienterung möglich ist. Dieses Leistungsspektrum kann sich aber nicht jeder (finanziell) leisten. Noch schwieriger ist es also, die Kunden – auch online – zum Wiederkommen zu bewegen. Das ist das rationale Problem.
Noch viel schwerwiegender finde ich allerdings, was das für die ‚Kultur’ des Handels bedeutet. Wandert der stationäre Händler zunehmend ins Netz, so muss er sich auch den Regeln des Netzes unterwerfen. Er kämpft dann ‚freiwillig’ nach den Regeln der Platzhirsche. Und diese heißen nun mal Transparenz und Preis. Das zieht dann wieder die Probleme nach sich, wie wir sie eben schon hatten.
Die ursprüngliche Identität des Handels, die eingangs erwähnten Faktoren Beratung, Qualität, Vertrauen, personenbezogene Loyalität gehen darüber verloren. Image und Markenprestige leiden darunter. Welche Rolle soll zukünftig noch das Ladengeschäft spielen? Die Abholstation zum Online-Shop – sofern sie sich nicht ohnehin gegenseitig kannibalisieren? In der Tat, es gibt solche Versuche der Umwandlung. Die Entmenschlichung wird weiter vorangetrieben. Das ist nicht nur traurig und trostlos (für die Innenstädte), es ist auch eine grobe Missachtung des Kundenwillens. Denn ginge es nur nach rationalen Kriterien, dürfte eh kein stationärer Händler mehr existieren, denn irgendwo im Netz findet es sich immer billiger, schneller, usw. Trotzdem gehen ja immer noch viele ins Geschäft.

Wer den Weg zum stationären Händler noch auf sich nimmt, kann dies nur mit Vorsatz tun. Der Vorsatz ist eine klare Erwartung an den Händler – auf emotionaler Ebene und im Hinblick auf Leistungsangebote, die online (noch) nicht geboten werden.

Dabei sind es weiß Gott nicht nur Senioren, die den klassischen Handel bevorzugen. Selbst die überwiegende Mehrheit der ‚Digital Natives’ will bestimmte Dinge nicht im Netz kaufen. Sie will sie vorher erlebt und angefasst haben. Statt bloßen Informationen will sie Rat, Lösungsangebote und die Bestätigung (Bedürfnisse, die oft unbewusst vorliegen) eines Experten, also des Verkäufers. Wenn denn nur einer da wäre oder der etwas vom Verkaufen verstünde.

Ja, man muss leider konstatieren, dass der stationäre Handel zurzeit im Begriff ist, sich selbst abzuschaffen. Zum einen, indem er (Preis-)Schlachten schlägt, die er nicht gewinnen kann. Zum anderen, indem viele seiner Händler desertieren und ins Lager der Online-Händler überlaufen, hoffend, dass beim Gemetzel am stationären Handel ein paar Brocken Marktanteile für sie übrig bleiben.

Das Grundübel ist in allen Varianten das Gleiche: anstatt sich an den Kundenbedürfnissen auszurichten, ist man auf den Gegner fixiert, nimmt den Kampf mit seiner stärksten Waffe auf oder versucht ihn gleich, ohne eigene Identität, zu imitieren. Das ist die Mentalität des Verlierers!

Es ist eben ein Kulturkampf à la Huntington. Stationär vs. Online. Nachahmer gegen Innovator. Identitätsverlust gegen Überzeugung. Angststarre gegenüber der Revolution. Der Mut zum eigenen USP, zur eigenen Identität, zur eigenen Revolution, er fehlt.

Eskapaden des Kartellamtes

Wer hilft nun jemandem, der sich schwer tut, sich selbst zu helfen?

Die Politik ist dafür nur bedingt geeignet, aller Sorge um die Innenstädte5 zum Trotz. Die jüngst in Kraft getretenen, neuen Regelungen zum Widerrufsrecht mag man als Erschwernis für den Online-Handel werten. Aber ohne zu tief in die Lehren der Ökonomie einzusteigen, dürfte Konsens darüber herrschen, dass Politik nur die Rahmenbedingungen der Wirtschaft stellt. Aktive staatliche Eingriffe in das Wirtschaftssystem oder gar Dirigismus bringen langfristig mehr Schaden als Nutzen.

Immerhin gibt (gab) es einige Markenartikelhersteller, die dem stationären Handel die Treue hielten und sich offen gegen die Online-Portale positionierten. Der Focus mutmaßte letztes Jahr bereits: „Amazon laufen die Markenhersteller weg“6. Die Hersteller fühlten sich auf den Portalen häufig verramscht – was kein Wunder ist in einem Umfeld, wo nur der Preis zählt. Dubios günstige Preise und schlechte Warenpräsentation, das passt manchem Hersteller – zu Recht – nicht in sein Imagekonzept. Viel schlimmer ist gleichwohl, wenn erklärungsbedürftige Produkte ohne Beratung beim Kunden landen. Fehlende Beratung mündet dann oft in Enttäuschung über das Produkt und diese Enttäuschung fällt natürlich auf den Hersteller zurück.7
Manche Hersteller unterbanden den Handel im Netz gleich ganz, bspw. der Sportschuhhersteller Asics. Andere wie der Gartengerätehersteller Gardena gewährten stationären Händlern höhere Nachlässe als Online-Händlern.

Diese Praktiken rief dann das Bundeskartellamt auf den Plan. Zitat aus dem Fallbericht Gardena: “Das Bundeskartellamt hat diese Konditionen geprüft und darin ein verbotenes sog. Doppelpreissystem gesehen, da die Funktionsrabatte so ausgestaltet waren, dass ein Händler nur über seinen stationären Absatz in den Genuss der vollen Rabatte kommen konnte.“8

Im Fall Asics äußert sich der Präsident des Bundeskartellamts, Andreas Mundt, persönlich wie folgt: „Es ist allgemein anerkannt, dass Hersteller ihre Händler nach bestimmten Kriterien auswählen dürfen und Qualitätsanforderungen aufstellen können. ASICS untersagt den Händlern allerdings den Vertrieb über Online-Marktplätze und die Unterstützung von Preisvergleichsmaschinen und schießt damit über das Ziel hinaus.“9

Lassen Sie mich ausnahmsweise in die Form der direkten Anrede wechseln:

Mit Verlaub, Herr Präsident, SIE schießen über das Ziel hinaus.

Der Online-Handel kann kaum eine ernstzunehmende Kundenberatung leisten. Andererseits erzwingt Ihr Amt die generelle Handelbarkeit aller Produkte auch online. Das kann nur heißen: Kundenberatung ist nach Ihrer Auffassung keines dieser Qualitätskriterien, das an den Vertrieb des Produktes geknüpft werden kann! Jedenfalls ergeben Ihre Aussagen nur so logischen Sinn. Immerhin sind Sie konsequent: wenn Beratung keine Qualität darstellt, dann ist es nur folgerichtig, dass Sie den Herstellen nicht erlauben, die Beratungsleistung über den Preis zu honorieren, also Abschläge zu gewähren. Analog gilt das nicht nur für die Beratung, sondern bspw. auch für das Kriterium ‚Warenpräsentation’.

Was hier passiert, ist vordergründig die Beseitigung eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot. Vielleicht mag dies in dem einen oder anderen konkreten Fall sogar zutreffen. Daraus allerdings einen generellen Zwang abzuleiten, den Online-Handel einzubinden, ist eine unsachgemäße Verallgemeinerung (oder wie der Wissenschaftler sagen würde ein induktiver Fehlschluss) und Gleichmacherei, weil ‚auf Teufel komm raus’ gleiche Bedingungen (Preis/Lieferbedingungen) an ungleiche Leistungen (Produkt-Service-Kombinationen) geknüpft werden. Und damit verzerrt man die Preise zu Gunsten der Online-Händler. Denn was Sie (und/oder Ihr Amt) offensichtlich noch nicht verstanden haben, ist der Unterschied zwischen dem Preis als solchem und dem Preis-Leistungsverhältnis. Vielleicht arbeiten zu viele Verwaltungsfachleute und Juristen in Ihrem Amt und zu wenige Ökonomen und Pragmatiker?

Zur Fehlbeurteilung kommt dann noch Zynismus. Im ähnlich gelagerten Fall von Adidas sagen Sie, dies sei „gerade für kleine und mittlere Sportfachhändler auch in Anbetracht rückläufiger Kundenfrequenzen eine wichtige Möglichkeit, ihren Kundenkreis zu erweitern.“10 Ach so? Wenn Sie es noch nicht getan haben, rate ich Ihnen, nochmals den Abschnitt „Die Konterrevolution lässt auf sich warten“ zu lesen. Der Online-Handel ist für die meisten kleinen und mittleren Händler nicht die Rettung, sondern eine Falle, ein zunächst süßes Gift. Die Sterbehilfe wird ihnen noch schöngeredet. Tatsächlich ermöglichen Sie den ‚big playern’ den Markteintritt mit Marken, die ihnen zuvor nicht zugänglich waren. Der Online-Fachhändler (wenn dieser Name überhaupt gerechtfertigt ist) wird langfristig dazwischen zerrieben. Das Kartellamt macht sich zum nützlichen Komplizen von Amazon & co.
Es ist schon erstaunlich für ein FDP-Mitglied und somit vermeintlich liberalen Zeitgenossen, mit welcher Verve Sie sich für Bevormundung, Eingriffe in die unternehmerische Freiheit und Einmischung in das operative Geschäft einsetzen.

Folgerungen

Diesen lebensfremden Entscheidungen den Kampf anzusagen ist ein Fall für entsprechende Interessensverbände – da können diese sich mal wirklich nützlich machen.

Wohlgemerkt: die Entscheidungen des Kartellamts sind nicht Ursache für die Agonie des stationären Handels. Dafür ist der Handel schon selbst verantwortlich. Sie sind ’nur‘ im schlimmsten Fall ein weiterer Sargnagel. Sie sind im (hoffentlich) besten Fall der Weckruf, dem Dolchstoß zu trotzen und sich zu besinnen. Auf der Preis-Seite wird der Wettbewerb ‚dank’ des Kartellamts noch unerbittlicher. Der stationäre Handel muss also etwas auf der Leistungs-Seite tun! Mit entsprechenden Leistungen kann er auch höhere Preise rechtfertigen. Eine deutliche Mehrheit (ca. 70%) ist auch bereit, für mehr Leistung mehr zu bezahlen (siehe Grafik).

Benchmark-Auszug des Verkaufs-Performance-Index (VPI)

Das heißt insbesondere Kundenorientierung, bevor ihm der E-Commerce auch hier den Rang abläuft. Amazon tut das bereits auf so ziemlich alle Arten, die sich online darstellen lassen.
Kundenorientierung heißt auch Verzicht auf Uniformität. Denn Kundenorientierung erschöpft sich nicht mit der Gestaltung des POS und heißt schon gar nicht Selbstbedienungsterminals.11 Insofern sind mir Messen à la Euroshop eher unsympathisch, vermitteln sie doch den Eindruck, es käme vorrangig darauf an. Die Lösung und Losung heißt Face-to-Face – denn das ist der USP des Handels! Wer weiß, wann Amazon noch auf die Idee kommt, Online-Verkaufsgespräche, z.B. via Skype, anzubieten. Das ist nicht so weit hergeholt, denn – Schreck-lass-nach – mit ‚Amazon Mayday’ ist bereits eine Vorstufe dessen geschaffen, eine Live-Videoverbindung zum (technischen) Kundenzentrum.12

Die Polarisierung der Zukunft wird in die Richtung gehen

  • Online-Handel → rational geprägt
    Entscheidungsfaktoren Nützlichkeit, Kalkül → Schwerpunkt Preis
  • Offline-Handel → emotional geprägt
    Entscheidungsfaktoren Erlebnis, Befriedigung → Schwerpunkt (Preis-) Leistungs-Verhältnis

„Zukünftig wird der Kunde, je nach individuellem, emotionalem Bezug zu verschiedenen Themen, ins Geschäft gehen oder ins Internet.“
(Dr. Thorsten Bosch)

Die Aufgabe des Offline-Handels ist es, den emotionalen Bezug herzustellen und zu halten. Die Aufgaben, die sich daraus ergeben:

  • Kunden (wieder)erkennen
  • Kunden kennen lernen / eine Beziehung aufzubauen
  • Bedürfnisse des Kunden erkennen, Produkte und Lösungen kennen und bedarfsgerecht verkaufen
  • Wissen über Kunden gewinnen
  • Anlass geben, um wiederzukommen

Um im Kampf der Handelskulturen zu bestehen, muss der stationäre Handel überhaupt eine Kultur, einen Spirit haben. Der Masse an stationären Händlern geht das ab. Die Kultur muss aber nicht gänzlich neu erfunden werden. Es ist eher eine Rückkehr zu den Tugenden des ehrlichen Händlers.


Quellen/Fußnoten:

¹ vgl. http://www.computerbild.de/artikel/cb-News-Amazon-Fire-Phone-Smartphone-6821810.htm
² vgl. wirkt.de “eCommerce versus stationärer Handel: Der Mythos vom Beratungsklau“
³ Also unterhalb der eigenen Kosten für Einkauf und die umgelegten Betriebskosten.
4 Ergebnis einer konkreten Verkaufs-Performance-Index (VPI) – Erhebung; weitere Informationen siehe hier
5 vgl. Wiwo.de: „Versandriesen / So macht Amazon unsere Innenstädte platt“
6 focus.de: „Fehlende Beratung, schlechte Präsentation / Adidas, Mammut, Deuter – Amazon laufen die Markenhersteller weg“
7 siehe dazu: „Totengräber des Fachhandels“ in: Der Spiegel, 25 (2014), S. 72-73
8 siehe http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Entscheidung/DE/Fallberichte/Kartellverbot/2013/B05-144-13.pdf?__blob=publicationFile&v=3
9 siehe http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2014/28_04_2014_Asics.html?nn=3591286
10 siehe http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2014/02_07_2014_adidas.html
11 vgl. wirkt.de: „Das Problem der Doppelpriorität im stationären Handel …“
12 vgl. stern.de: „Mayday – Amazon erhört Hilferufe“