Management by Internet – eine Fundamentalkritik

Dr. Willms Buhse positioniert sich nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Debatte als Vorreiter der digitalen Kollaboration – mit zwei Jahrzehnten Interneterfahrung. An internationalen Digital-Projekten wirkt er seit 1994 mit. Nach einer intensiven Arbeitsperiode in den USA ist Buhse heute als Keynote-Speaker und Consultant tätig – mit dem Anspruch, die Innovationen des Silicon Valley, an denen er zum Teil einen eigenen Anteil hat, in den Chefetagen der bundesdeutschen Wirtschaft und Politik publik zu machen. Sein aktuelles, im Sommer 2014 erschienenes Buch heißt „Agility by Internet“ – ein Vorabdruck davon findet sich in der „Wirtschaftswoche“.

Buhses Credo: Das Internet erfordert Agilität statt langer Planung, Vernetzung statt strikten Hierarchien. Als die vier zentralen Erfolgsmuster im Internet nennt er Vernetzung, Partizipation, Offenheit und Agilität, mit denen sich angesichts einer sich rasant verändernden und immer komplexer werdenden digitalen Welt Geschäftsmodelle entwickeln und Unternehmen führen lassen. „Management im Internet“ zielt darauf ab, die „Mentalitäten und Organisationsformen“, die den Alltag der meisten deutschen Arbeitnehmer bisher prägen, zu verändern. Im Kern postuliert Willms Buhse, dass zentralisierte, hierarchische Organisationsformen im Zeitalter des Internet am Ende sind, da sie mit ihren starren Strukturen kaum noch in der Lage sind, auf Veränderungen angemessen zu reagieren.

Anarchie statt Hierarchie

Bei der Lektüre haben wir uns allerdings gefragt, ob Herr Buhse nicht in Wirklichkeit an einer Profilneurose leidet. Bei seinen Ideen über „Management by Internet“ geht es vor allem um Beliebigkeit und allenfalls am Rande darum, Managementtechniken zu entwickeln, die den Anforderungen der modernen Arbeitswelt tatsächlich angemessen sind. Statt Hierarchien fordert er Laissez-fair – und aus unserer Perspektive ebenso wie vermutlich aus der Sicht der meisten Unternehmenslenker – letztlich Anarchie. Die Beispiele, die Buhse zur Illustration seiner Forderung heranzieht, lassen sich recht einfach hinterfragen und ad absurdum führen.

Beispiel 1 – Offenheit

Der US-amerikanische Autobauer Local Motors stützt sich zur Entwicklung neuer Modelle auf zwei grundlegende Konzepte: Open Source und Crowdsourcing-Finanzierung. Furcht vor Industriespionage wie bei den etablierten Autofirmen gibt es bei Local Motors nicht. Das Herzstück des Unternehmens besteht in einer globalen Online-Community, in der über 36.000 Auto-Experten und -Fans aktiv sind. Buhse führt pro Local Motors ins Feld, dass diese Community über das Internet vermittelte neue Projekte sehr viel schneller umsetzt als herkömmliche Automobilkonzerne. Voraussetzung dafür ist absolute Offenheit.

Unsere Position: Funktionieren kann der Local-Motors-Ansatz nur, weil Autos ein hoch emotionalisiertes Produkt sind und die Entwicklung eines neuen Fahrzeugs außerdem den kreativen Spieltrieb anspricht. Folglich finden sich genügend Enthusiasten und Idealisten, die diesen Job auch für lau übernehmen wollen. Wie das Konzept bei Produkten funktionieren soll, die für Fans nicht attraktiv sind, sagt Buhse leider nicht. Ebenso wenig lässt er seine Leser wissen, wie aus der Offenheit Profit entstehen soll. Die Firma selbst hat Ihre dauerhafte Überlebensfähigkeit auch noch nicht unter Beweis gestellt. Eignet sie sich damit wirklich als Beispiel?

Überhaupt Offenheit: Was damit gemeint ist, bleibt im Dunkeln – ist Local Motors nun nur nach innen oder auch nach außen offen? Wer beurteilt, was „offene Informationen“ sind? Wer übernimmt das Wissensmanagement? Und was passiert, wenn in Projekten unterschiedliche Sichten, Designer und Entwürfe aufeinanderprallen – entscheidet dann die Community oder gibt es doch eine Zentrale, die eine Entscheidung trifft, vulgo: Ein hierarchisch abgesichertes Machtwort spricht? Was passiert, wenn wirklich Umsatz gemacht wird und Begehrlichkeiten aufkommen, die ehemals freiwilligen Helfer also ein Stück vom Kuchen ab haben wollen? So schön der Ansatz klingt: Buhse hinterlässt bei uns im Hinblick auf die von ihm gewünschte und auf das Internet projizierte Offenheit nichts als Fragen.

Beispiel 2 – Vernetzung

Als herausragendes Beispiel für funktionierende Vernetzung nennt Buhse zwei „ganz normale Netznutzer“, die im Frühjahr durch ihre Facebook-Seite „Fluthilfe Dresden“ dafür sorgten, dass freiwillige Helfer und Hilfsmaterialien schnell und effizient dorthin gelangten, wo sie wirklich nötig waren und die Helfer sich über das Internet organisieren konnten – laut Buhse zu einem Zeitpunkt, als die Hilfskonvois von THW und Bundeswehr noch auf dem Weg nach Dresden waren. Seine Schlussfolgerung: Manager können aus dieser Initiative von Privatpersonen sehr viel lernen. Sie zeige, dass die Schwarmintelligenz funktioniere, solange ein klares Ziel und eine gemeinsame Idee die handelnden Personen eint. Intelligente Vernetzung kann zentrale Entscheidungen ersetzen. Durch das Internet können Menschen ihr Wissen teilen und altgediente Hierarchien und Systeme mindestens ergänzen.

Unsere Position: Um nicht falsch verstanden zu werden, wir unterstützen die Hilfsbereitschaft der Menschen absolut. Es muss allerdings die Frage erlaubt sein, ob sich der Fall als Beispiel eignet, um Buhses These zu stützen.

Erstens: er zieht erneut ein hochgradig emotional belegtes Beispiel heran. Alle trieb die schiere Angst um ‚ihre‘ Stadt bzw. ihr Hab und Gut. Eine solch massive, emotionale Involvierung der Beteiligten ist im Wirtschaftsleben nicht die Regel.
Zweitens: es gab keine wesentlichen Zieldivergenzen. Alle einte der Gedanke: das Wasser muss zurückgehalten werden. Die Zielfindung im unternehmerischen Kontext ist deutlich komplexer.
Drittens: es gab keine Wettbewerbssituation. Somit ordnet man sich bereitwillig dem Ziel unter. Ist das Beispiel somit auf das Wirtschaftsleben übertragbar? Selbstlosigkeit ist nicht gerade ihr Markenzeichen, weder innerhalb und schon gar nicht zwischen den Unternehmen.
Viertens: ging es hier wirklich um Vernetztheit? Da sitzen also ein oder zwei Personen am PC, über deren Kompetenz zur Hilfeleistung nichts bekannt ist. Ebenso wenig ist bekannt, nach welchen Kriterien und Maßstäben sie die Massen dirigieren. Mit offiziellen Stellen und Institutionen war diese Aktion offenbar in keiner Weise abgestimmt – im „worst case“ schicken die „Vernetzer“ die Leute in extreme Gefahr oder sorgen dafür, dass die unbedarften Ersthelfer die Arbeit der Fachkräfte sogar behindern. Wenn überhaupt, müssen sich THW, Bundeswehr oder Feuerwehr solcher Medien bedienen und den Einsatz steuern.
Wir sind weit davon entfernt, es den beiden Fluthilfe-Helfern zu unterstellen, aber: wo zwei Personen Informationen und Massen dirigieren, dort liegt darin auch immer die Gefahr der Manipulation und Sabotage. Und das hat dann doch sehr hierarchische – um nicht zu sagen: autokratische – Züge.

Erfahrene Rettungskräfte kennen übrigens folgendes Szenario, das bei vielen Verkehrsunfällen zu beobachten ist: Die leicht und mittelschwer Verletzten schreien laut um Hilfe. Unerfahrene Ersthelfer kümmern sich daher vornehmlich um diese. Die wirklichen Problemfälle können oft nicht mehr schreien und bekommen deshalb keine Hilfe. Diese Gefahr war bei der Fluthilfe zumindest latent vorhanden.
Es sollte daher immer jemanden geben, der die Leute auf ein sinnvolles Ziel ausrichtet und einen solchen Einsatz mit Expertise leiten kann.

Um es aber nochmal zu betonen: wir wenden uns damit nicht gegen die Helfer, im Gegenteil. Jeder ist aufgerufen, in Notsituationen als (Erst-)Helfer zu unterstützen. Wir haben indes starke Zweifel an der Übertragbarkeit des Beispiels auf die Wirtschaft.

Beispiel 3 – Teilhabe, Partizipation

Amanda Palmer ist eine US-amerikanische Musikerin, die durch eine Zufallsaktion lernte, dass sie ihre CDs und Videos auch unabhängig von einer Plattenfirma – durch den Support der Crowd im Internet – produzieren kann. Vorausgegangen waren Unstimmigkeiten mit der Plattenfirma und die Erkenntnis, dass der Profit ihrer Aufnahmen größtenteils auf Seiten der Unterhaltungsindustrie verblieb und diese auch gute Abverkäufe noch als Misserfolge sah. Die Lösung fand sie auf der Crowdsourcing-Plattform Kickstarter: Durch das Engagement ihrer Fans erhielt sie dort innerhalb weniger Tage nicht die gewünschten 100.000, sondern 1,2 Millionen US-Dollar für die Produktion ihres neuen Albums und eines Videos. Für Buhse folgt daraus, dass sich die Machtverhältnisse zwischen Chef und Mitarbeitern durch das Internet drastisch verändern – was für Firmen problematisch werden kann, wenn sie diesen Fakt zu spät begreifen und ihre besten Leute gehen. Gleichzeitig sind der permanente Austausch und das Teilen von Ressourcen durch das Internet normal geworden.

Unsere Position: Sehr schön – und alles Gute für Amanda Palmer. Allerdings bemüht Buhse zum dritten Mal ein emotionales Gut als Beispiel. Welche Summe hätte Amanda Palmer wohl erhalten, wenn sie versucht hätte, als Mitarbeiterin in einem Betrieb für Plastikgussbauteile in der Sanitärzulieferindustrie das gleiche zu erreichen? Auch um echte Partizipation handelt es sich bei Amandas Beispiel aus unserer Perspektive nicht. Letztlich ging es bei ihrer Aktion nur um eine andere Form, an Investoren zu kommen und ebenso um eine andere Form – mit CDs und Konzerttickets als Goodies – Dividenden auszuschütten. Etwas anderes als finanzielle Partizipation haben die Unterstützer ja wohl nicht geleistet.

Management by Internet:
Hierarchien und Zentralismus nicht dasselbe

Ohne Frage, das Internet befähigt die Menschen, sich schnell und agil zu organisieren. Und Herr Buhse hat uns ein paar Beispiele gegeben, wo dies zu einem (vermeintlich) guten Ziel geschieht. Freilich unterschlägt er dabei zwei Dinge:

  1. das kaum ein Projekt nach seinen Modell gelingen wird, wenn es nicht konkrete und insbesondere emotionale Motive der Menschen anspricht.
  2. die Tatsache, dass diese Ziele nicht so automatisch gut oder zweckmäßig sind. Wo keine Regelungsinstanz mehr ist, dort kann man sich zu allem organisieren, beispielsweise auch zum Online-Mobbing, worauf bereits viele Selbstmorde zurückzuführen sind. Das ist die Lynchjustiz im neuen Gewande.

Lynchjustiz funktioniert nach genau den gleichen Prinzipien von Agilität, Hierarchiefreiheit, Vernetztheit, Selbstorganisation, Schwarmintelligenz, Partizipation usw., wie sie mit ‚Management by Internet‘ zum Modelltypus erhoben werden sollen.

Letztlich drängt sich uns der Verdacht auf, dass der Autor von „Management by Internet“ weder zwischen Organisations- und Führungsformen noch zwischen Hierarchien und Zentralismus unterscheiden kann. Diese Unfähigkeit prägt nicht nur seine Publikation, sondern viele Bücher und Artikel, die sich diesem Thema widmen. In seinem Text bringt Buhse noch ein weiteres Beispiel: Am frühen Abend an einem kühlen, regnerischen Tag verteilten die Promoter von Nivea vor der Hamburger „Strandperle“, einem Szene- und Ausflugslokal direkt an der Elbe, ihre Samples – ausgerechnet Sonnencremes. Der Grund dafür war aus Sicht des Autors vermutlich eine langfristige Planung, die nun niemand stoppen konnte oder wollte. Diese Szene illustriert allerdings auch Buhses Fehler. Hier geht es nicht um Probleme in der Hierarchie, sondern um falsch ausgestaltete Entscheidungsspielräume, also um die Kultur der Firma. Der gleiche Fauxpas kann einem Unternehmen auch passieren, wenn sein Management nach Buhses Intentionen „by Internet“ erfolgt.

Wo sich Agilität eigentlich seiner Idee nach eigentlich als Struktur oder Kultur wiederfindet, hat sich uns bei der gesamten Lektüre nicht erschlossen – was übrig bleibt, ist die plumpe Forderung nach „Agilität“.

Fazit:

  • „Management by Internet“ bedeutet nicht die Abschaffung von Hierarchien – auch das Internet erfordert personelle und fachliche Entscheidungskompetenz.
  • Projekte und Unternehmen, bei denen keine formalen und auch durch entsprechende Expertise abgesicherten Entscheidungsstrukturen mehr gegeben sind, versinken in Anarchie oder bilden informelle Strukturen.
  • Extrembeispiele sind wenig geeignet, um daraus allgemeingültige Regeln abzuleiten.
  • Entscheidend dafür, ob Hierarchien, Zentralismus und damit Entscheidungsprozesse sinnvoll funktionieren, ist die Kultur von Unternehmen und weniger deren Organisation.

Quelle:
http://www.wiwo.de/erfolg/management/erfolg-im-digitalen-zeitalter-hierarchische-unternehmen-haben-ausgedient/10038354.html