Präsentismus – die negative Konsequenz des Arbeitswahns

Das Institut für Demoskopie und Meinungsforschung Allensbach hat 591 Manager zu ihren Schlafgewohnheiten befragt – mit bedenklichem Ergebnis. Rund 20 Prozent von ihnen bekommen fünf oder noch weniger Stunden Schlaf pro Nacht. Ein Drittel von ihnen ist davon überzeugt, dass sie sich wegen ihres Arbeitspensums nicht mehr Schlaf leisten können. Jeder zweite der Befragten meint, dass er definitiv zu wenig Schlaf bekommt.

Schlafforscher betrachten diese Entwicklung äußerst skeptisch. Der US-amerikanische Wissenschaftler Mark Rosekind attestiert Menschen, die dauerhaft zu wenig schlafen, den Verlust von 20 Prozent Gedächtnisleistung und 50 Prozent ihres Entscheidungsvermögens. Beide Eigenschaften benötigen Manager jedoch in ihrem Arbeitsalltag zwingend. Der Schlaf-Mediziner und Harvard-Professor Charles Czeisler meint, dass übermüdete Manager sich ähnlich irratonal verhalten wie Betrunkene mit mindestens einem Promille Alkohol im Blut. Die Folgen der Übermüdung können die Unternehmen in Form von Fehlentscheidungen oder Imageschäden sehr direkt betreffen.

Schlafmangel als Leistungsausweis versus Präsentismus

Viele Top-Manager haben auf ihre Schlafdefizite allerdings einen anderen Blick: Rüdiger Grube, der Chef der Deutschen Bahn, betrachtet seine vier Stunden Schlaf pro Nacht als Ausweis seiner Leistungsfähigkeit. Auch die früheren Karstadt-Quelle-Chefs Wolfgang Urban und Thomas Middelhoff waren stolz auf ihr absolutes Minimum an Schlaf. Der Karriere-Coach, Management-Wissenschaftler und Buchautor Martin Wehrle betrachtet die ‚Wachheit bis zum Umfallen‘ als einen typischen Auswuchs der modernen Arbeitswelt. Die schlaflosen Manager senden damit die Botschaft aus, dass Zeit Geld ist und sie durch den Schlafverzicht noch mehr Zeit für das Wesentliche – natürlich ihre Arbeit – gewinnen. Es geht ihnen dabei um ihr Image in der Öffentlichkeit, aus mittlerer Perspektive auch um die Bewertung durch ihre eigenen Vorgesetzten, vor allem jedoch um die Vorbildwirkung für ihre Mitarbeiter.

Wer täglich nur vier Stunden schläft, als Hobby höchstens in aller Herrgottsfrühe joggen geht, um sich für die Arbeit in der Firma fit zu halten und sein Büro erst kurz vor Mitternacht verlässt, erwirbt damit doch offensichtlich auch das Recht, von seinem Team den gleichen Einsatz zu verlangen. Das ‚gute Beispiel‘ verkehrt sich allerdings oft in sein exaktes Gegenteil. In vielen Unternehmen herrscht seit Jahren eine Kultur des Präsentismus. Als besonders einsatzbereit und leistungsfähig gelten Mitarbeiter, die sich den ungeschriebenen Präsenz-Regeln der Firmen klaglos fügen. Welche Resultate überlange Arbeitszeiten den Firmen wirklich bringen, interessiert – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie.

Arbeiten – notfalls, bis der Arzt kommt?

In einem Artikel auf ‚Spiegel Online‘ beschreibt Wehrle mögliche Arbeitnehmer-Perspektiven auf das Phänomen. Die Firmen versprechen ihren Mitarbeitern durch flache Hierarchien und flexible Arbeitszeiten die ‚große Freiheit‘. Selbstverantwortung ist schließlich Trumpf – der Arbeitnehmer ist in diesem Leitbild so weit wie irgend möglich sein eigener Herr. Die Praxis in den Unternehmen sieht indessen anders aus: Der Mitarbeiter wird mit seiner Verantwortung für den eigenen Erfolg und für den Erfolg des Unternehmens konsequent allein gelassen. Falls am Ende stattdessen ein Misserfolg herauskommt, sind die angestrebte Karriere oder auch das Beschäftigungsverhältnis in der Regel schnell zu Ende.

Die Grundlagen der flexiblen Arbeitszeiten lassen sich mit einem Satz beschreiben: Feierabend ist erst dann, wenn alles fertig ist. Wer mit seiner Arbeit in acht Stunden tatsächlich fertig wird, gilt schnell als unausgelastet oder gleich als Minderleister. Die Mitarbeiter ziehen daraus ihre Konsequenzen: Entweder akzeptieren sie mehr Arbeit als sie realistischerweise schaffen können und – Stichwort ‚Präsentismus‘ – harren so lange an ihrem Schreibtisch aus, bis auch der Chef nach Hause geht. Falls sie dem Arbeitswahn auf Dauer nicht gewachsen sind, betrachten Vorgesetzte und Personalabteilung sie schnell als ‚Burnout-Persönlichkeit‘. Für Burnout-Kliniken und Mediziner sind die Opfer des permanenten Zeit- und Leistungsdrucks ein einträgliches Geschäft, für die Unternehmen sowie Krankenversicherungen und öffentliche Kassen sind sie teuer: Zwischen 2005 und 2011 hat sich die Zahl der Krankheitstage wegen Burnout nahezu verelffacht. Jeder dritte Frührentner scheidet – im Schnitt mit 48 Jahren – wegen psychischer Probleme aus dem Arbeitsleben aus.

Abwesenheit statt Anwesenheit – Maßstab für psychisches Wohlbefinden und Erfolg

Aus Sicht der Dr. Thorsten Bosch AG braucht unsere Gesellschaft dringend einen Paradigmenwechsel. Der Maßstab für psychisches Wohlbefinden und Erfolg sollte sich nicht durch Anwesenheit, sondern durch Abwesenheit definieren – und zwar in mehreren Dimensionen:

  • Präsentismus ist weder ein Kriterium für individuelle Leistungsfähigkeit noch für den Unternehmenserfolg als solchen.
  • Führungskräfte haben hier eine Vorbildwirkung – und durch diese in der Hand, ob es im Unternehmen um sowohl den Unternehmens- als auch den Mitarbeiterinteressen angemessene flexible Arbeitszeiten oder um Präsentismus geht.
  • Ein Erfolgskriterium für die Arbeit einer Führungskraft ist auch, inwieweit deren Abteilung ohne die ständige Anwesenheit des Vorgesetzten funktioniert.

Der deutsche Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat einmal formuliert, dass die Krankheit der Manager darin bestehe, nicht krank sein zu können. Die Konsequenz daraus: Wenn es in Ihrem Team auch ohne Sie gut läuft, sind Sie in Ihrer Tätigkeit als Führungskraft erfolgreich.

Praxistipps:

  • Für sein persönliches Wohlbefinden ist jeder selbst verantwortlich – auch Sie als Führungskraft.
  • Als Chef haben Sie auch in Ihrer Work-Life-Balance für Ihre Mitarbeiter eine Vorbildwirkung.
  • Der Maßstab dafür ist die Abwesenheit und nicht die Anwesenheit – respektive Ihre Entscheidungsqualitäten, die Sie an Ihre Mitarbeiter weitergeben.
  • Ihre eigene Selbstwahrnehmung als produktiv und selbstbestimmt – oder als Präsentismus-getriebenes ‚Arbeitstier‘ – definiert Ihr Anforderungsprofil an Ihre Mitarbeiter.
  • Für eine ausgewogene Aufgaben- und Zeitverteilung in Ihrem Team sollten Sie Ihre eigenen sowie die Belastungsgrenzen jedes einzelnen Mitarbeiters kennen – sowohl im Tagesgeschäft als auch in Krisensituationen.

Quellen:

http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/schlaflose-manager-der-feind-in-meinem-bett-a-933872.html
http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/martin-wehrle-ueber-die-arbeitswelt-der-globalisierung-a-926817.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Horst-Eberhard_Richter