Ständige Erreichbarkeit – was bedeutet sie aus Führungsperspektive?

Ständige Erreichbarkeit durch digitale Medien sowie Mobilgeräte gehört zu den ‚Geißeln‘ der modernen Arbeitswelt. Viele Arbeitnehmer geben sie in Studien als expliziten Überlastungsfaktor an, unter Experten gilt sie als einer der maßgeblichen Gründe für chronische Überforderung von Arbeitnehmern bis hin zum Burnout.

In deutschen Großkonzernen scheint sich vor diesem Hintergrund ein neuer Führungskonsens zu entwickeln. VW und die Deutsche Telekom, Daimler und jetzt auch BMW schränken die ständige Erreichbarkeit ihrer Mitarbeiter ein. Freizeit soll mindestens zu einem guten Teil auch Freizeit bleiben. Interessant an den Vereinbarungen ist ein weiterer Fakt: Die entsprechenden Betriebsvereinbarungen sind zwar für die Unternehmen bindend, vor allem liegt es jedoch in der Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters, ob und wie dieser die neuen Angebote nutzt. Wir präsentieren zwei unterschiedliche Stimmen.

Ständige Erreichbarkeit: E-Mail-Stopps lösen Probleme nicht

Der Psychologe und Burnout-Experte Michael Burisch meint, dass nicht die ständige Erreichbarkeit an sich das Übel ist, sondern die Arbeit selbst. E-Mail-Stopps seien daher zwar ein Schritt in die richtige Richtung – für eine wirksame Entlastung reichen sie jedoch nicht aus, da die Arbeitsmenge als solche nicht begrenzt wird. Als Beleg dafür führt er das Kommunikationsverhalten von Führungskräften an, die unter ständiger Erreichbarkeit meist mehr als andere leiden. Viele Manager, die auf internationaler Ebene tätig sind, müssen notfalls tatsächlich auch um zwei Uhr nachts erreichbar sein, wenn der Unternehmensstandort in Übersee von ihnen dringende Informationen oder Anweisungen erwartet. Das Problem liegt aus Burischs Sicht also vor allem in der Menge sowie der (globalen) Organisation der Arbeit. Räumliche und zeitliche Flexibilität kann angesichts einer dauerhaft großen Arbeitsmenge sogar zur Entlastung werden – wenn die Betroffenen sich in der Freizeit freiwillig ihrer Arbeit widmen. Ein Burnout droht immer dann, wenn sie die Arbeitsweise generell nicht akzeptieren. Die Kehrseite der Medaille ist aus Burischs Sicht, dass viele in ihre Arbeitsprozesse derart eingetaktet sind, dass sie außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit gar nichts anzufangen wissen. Ständige Erreichbarkeit respektive die ständige Verbindung mit Mail-Servern und Internet wird in solchen Fällen auch zu einem Vehikel gegen innere Leere.

Burisch prognostiziert, dass das Korrektiv gegen die Dauerüberlastung irgendwann nicht von den Unternehmen, sondern von den Mitarbeitern selber kommen wird. Irgendwann werden die Firmen Schwierigkeiten haben, überhaupt noch qualifiziertes Personal zu finden, das unter diesen Bedingungen arbeiten und produktiv sein kann. Die Generation Y meldet bereits jetzt grundsätzlich andere Werte an. Auch die Kosten für Burnout-Erkrankungen dürften den Unternehmen irgendwann zu teuer werden.

‚Holiday on Mail‘ bei Daimler

Beim Autobauer Daimler dürfen die Mitarbeiter seit etwa einem Jahr im Urlaub ihre E-Mails automatisch löschen, die unbearbeitete E-Mail-Flut nach den Ferien ist damit Vergangenheit. Ob sie diese Möglichkeit in Anspruch nehmen, entscheiden die Angestellten selbst – sie gilt ausdrücklich auch für Führungskräfte. Der Vorgesetzte muss zur Verwendung des „Abwesenheitsagenten“ keinesfalls seine Erlaubnis geben. Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth schätzt, dass im Unternehmen pro Tag rund fünf Millionen E-Mails eingehen. Die Möglichkeit, diese Informationsflut zumindest im Urlaub auszublenden, betrachtet er nicht zuletzt als wichtige emotionale Entlastung – sowohl Mitarbeiter als auch Manager hätten mit der neuen Praxis vorwiegend gute Erfahrungen gemacht. Dass sich die Automobilhersteller traditionell stark für soziale Themen – beispielsweise flexible Arbeitsmodelle oder Kinderbetreuung – engagieren, hält er für eine Konsequenz daraus, dass es sich dabei um eine erfolgreiche Branche mit der entsprechenden Finanzkraft handelt. Im Fall von „Mail on Holiday“ – so der Name des Programms – betrafen die Investitionen vor allem Software sowie sehr viele Arbeitsstunden.

Aus unserer Sicht ist das von Michael Burisch angesprochene Korrektiv gegen ständige Erreichbarkeit und Überlastung in den Unternehmen bereits in vollem Gange und eines der Indizien eines kulturellen Wandels, der in den Firmen um sich greift. In diesem Prozess werden auch traditionelle Hierarchien neu und anders definiert. Führungskräfte und Geführte werden künftig sehr viel stärker als Partner interagieren als bisher, ebenso werden die Mitarbeiter zunehmend als eigenständige – und wichtige – Akteure wahrgenommen. Bei Entlastungsstrategien gegen ständige Erreichbarkeit und Überforderung wird dieser Prozess nicht stehenbleiben. Das Unternehmen der Zukunft ist ebenso wie gute Führung menschenfokussiert.

Hinweise:

  • Ständige Erreichbarkeit, Arbeitsverdichtung und Überforderung gehören für viele zu den Charakteristika der Arbeitswelt.
  • Oft resultiert negativer Stress nicht nur aus der objektiven Arbeitsmenge, sondern ebenso aus Führungsfehlern – beispielsweise der Annahme, dass die Belastbarkeit der Ressource Mensch „unendlich“ ist.
  • Bewusste Veränderungen der Unternehmens- und Führungskultur von Unternehmen wirken hier als Korrektiv. Entscheidend für den Erfolg solcher Prozesse ist, dass sie von den Mitarbeitern eigenverantwortlich und auf Augenhöhe mitgestaltet werden können.

Quellen:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/burnout-der-psychologe-matthias-burisch-ueber-mail-sperren-a-953994.html
http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/daimler-vorstand-porth-e-mails-zu-loeschen-ist-emotionale-entlastung-a-955638.html