Stationärer Arbeitsplatz versus virtuelle Arbeitsformen

Oder: Ohne Bindung geht es nicht!

In den vergangenen drei Dekaden ging der globale Trend immer stärker und scheinbar unumkehrbar vom stationären Arbeitsplatz mit mehr oder weniger festen Arbeitszeiten zu flexiblen, virtuellen Arbeitsformen. Die Möglichkeiten und Notwendigkeiten dafür ergaben sich aus der digitalen Revolution und einer immer stärker global vernetzten Welt. Die neuen Arbeitsformen haben die Strukturen und Regeln der Arbeitswelt nachhaltig verändert. Allerdings hat dieser Prozess auch seine Schattenseiten: Menschen sind soziale und vor allem emotionale Wesen, die mit virtueller Heimarbeit allein nicht glücklich werden.

In den Unternehmen, bei ihren Mitarbeitern und auch bei vielen digitalen Freiberuflern setzt sich inzwischen die Erkenntnis durch, dass für befriedigende Arbeit auch die Beziehung zu Kollegen essentiell ist. Durch die drei großen Wellen der „Virtualisierung von Wissensarbeit“ sind nicht nur völlig neue Möglichkeiten für professionelle Autonomie entstanden – im Gegenzug ergeben sich daraus auch neue Bindungsformen.

Die erste Welle – Durchbruch der digitalen Freiberufler

In den späten 1980er/frühen 1990er-Jahren erwarben viele Menschen ihren ersten Personal Computer. Kaum jemand dachte damals darüber nach, dass die neue Technik und das damals noch anarchische und kaum kommerzialisierte Internet die Arbeitswelt innerhalb kurzer Zeit virtuell entgrenzen würden. In der Praxis hatte für viele Menschen die digitale Zukunft im Beruf zu diesem Zeitpunkt allerdings schon längst begonnen.

In den 1980er und 1990er Jahren erlebten in vielen Industrieländern die digitalen Freiberufler ihren Durchbruch. Durch diesen Trend etablierten sich viele Menschen auf dem Arbeitsmarkt, die aufgrund ihres Wohnorts, ihrer persönlichen Lebenssituation, fehlender formaler Abschlüsse oder mangelnder Berufserfahrung bisher keine Chance auf einen regulären Arbeitsplatz in einem Unternehmen hatten. Mit ihren Auftraggebern standen die freien Grafik-Designer, Texter, Übersetzer oder Programmierer via E-Mail in Verbindung. Unternehmen konnten durch sie ihre Auftragsvergabe weitaus flexibler kalkulieren als bisher, hatten größere personelle Auswahlmöglichkeiten, aber auch größere Rationalisierungs-Optionen im Hinblick auf ihr festangestelltes Personal.

In einer zweiten Stufe entwickelten sich im digitalen Raum kommerzialisierte und tendenziell globale Strukturen. 1995 ging eBay an den Start, nach sehr kurzer Zeit wurden auf zahlreichen strukturell ähnlichen Plattformen auch Dienstleistungen gehandelt. Die beiden US-amerikanischen Anbieter Elance und oDesk haben seit 1999 respektive 2002 mit insgesamt etwa zwei Millionen registrierten Nutzern ein Auftragsvolumen von rund einer Milliarde US-Dollar vermittelt.

Für die digitalen Freiberufler selbst war dieser Trend allerdings nicht ausschließlich von Vorteil. Dem Zuwachs an Arbeitsmöglichkeiten und individueller Freiheit stand ein Verlust von sozialen Sicherheiten und kalkulierbarer Karrieremöglichkeiten gegenüber. Viele von ihnen vermissten – und vermissen – außerdem die Kollegialität in einem festen Team sowie das Eingebundensein in größere Aufgaben und Strukturen.

Die zweite Welle – Produktivitätszuwachs durch virtuelle Teams

Um die Jahrtausendwende interessierten sich die Unternehmen immer stärker dafür, auch ihre Angestellten in virtuelle Arbeitsformen einzubinden. Triebkräfte dafür waren einerseits die fortschreitende Globalisierung, aber auch der Schock der Anschläge vom 11. September 2001 sowie die Befürchtung einer SARS-Pandemie in den nächsten beiden Jahren, die nahelegten, den Geschäftsbetrieb durch dezentralisierte, digitalisierte Arbeitsformen abzusichern. Das Trendwort für die zweite Virtualisierungswelle hieß „Telearbeit“, deren Einführung allerdings nicht als linearer Prozess vonstattenging.

Auf den ersten Blick ein Traum für Angestellte: Arbeit an beliebigen Orten, ohne direkte Kontrolle durch den Arbeitgeber und in einem zeitlichen Rhythmus, welcher der eigenen Lebenssituation angemessen ist. Auf den zweiten Blick haben sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter zumindest anfangs ihre Schwierigkeiten mit solchen „ungebundenen“ Arbeitsformen sowie den daraus resultierenden veränderten Methoden des Managements und der Erfolgskontrolle. Der britische Telekom-Konzern BT hat dies in einer internen Studie nachgewiesen: Eine Gruppe von Telearbeitern schnitt in den ersten Monaten im Hinblick auf ihre Leistung deutlich schlechter ab als eine Vergleichsgruppe mit stationärem Arbeitsplatz. Auf lange Sicht erzielte das virtuelle Team jedoch bei geringerer Fluktuation eine deutlich höhere Produktivität, gleichzeitig entwickelte das gesamte Unternehmen seine Steuerungs- und Kommunikationssysteme weiter.

Insgesamt kommen die neuen Arbeitsformen sowohl den Interessen der Arbeitgeber als auch der Mitarbeiter stark entgegen. Die Anzahl frei arbeitender Arbeitnehmer ist während des letzten Jahrzehnts stark angestiegen. Die traditionelle Büroinfrastruktur verliert an Bedeutung und wird zumindest der Tendenz nach durch flexible digitale Kommunikationsmittel – Cloud-Computing, Smartphones, Laptops, Tablets – abgelöst. In vielen Firmen koexistieren neue mit konventionellen Arbeitsformen. Junge High Potentials fordern von den Unternehmen immer stärker Möglichkeiten ein, Berufliches und Privates miteinander zu verbinden. Das Beispiel IBM zeigt, dass die neuen Arbeitsformen einem nachhaltigen Unternehmenserfolg nicht entgegenstehen – über 45 Prozent der weltweit 400.000 Mitarbeiter des Konzerns arbeiten bereits nicht mehr in Firmenbüros respektive an einem stationären Arbeitsplatz.

Die dritte Welle – Coworking-Arbeitsplatz als Quelle für Kreativität

Nachteile der zweiten Virtualisierungswelle bestanden in einer starken Diversifizierung von Aufgaben und Prozessen sowie in Produktivitätsverlusten durch das Wegfallen kontinuierlicher persönlicher Kommunikation. Eine natürliche Zusammenarbeit war in der virtuellen Arbeitswelt nicht mehr möglich. Bei vielen Unternehmen klangen außerdem Befürchtungen an, dass ältere Arbeitnehmer ihr Wissen vor dem Eintritt in den Ruhestand nicht mehr an die jüngeren Generationen weitergeben könnten. Viele Arbeitnehmer beklagten an ihren Telearbeitsplätzen den Mangel an sozialen Kontakten und Gemeinschaft.

Vor diesem Hintergrund investieren viele Firmen wieder in gemeinsame Arbeitsorte in der realen Welt, die allerdings anderen Regeln folgen als frühere stationäre Arbeitsplätze. Weltweit sind inzwischen rund 2.000 sogenannter Coworking-Spaces entstanden, die sowohl Unternehmen als auch den digitalen Freiberuflern eine neue Organisationsform für moderne Wissensarbeit bieten. Neben externen Coworking-Angeboten schaffen auch viele Unternehmen für ihre externen Mitarbeiter solche Räume. Coworking zielt darauf, Menschen, die sonst allein arbeiten miteinander zu verbinden. Mit konventionellen Büros haben sie wenig bis nichts zu tun. Moderne Coworking-Spaces präsentieren sich offen, entspannt und ein wenig cool. Nach einer weltweiten Umfrage des Coworking-Magazins „Deskmag“ bestehen ihre wichtigsten Vorteile in der Möglichkeit zum Austausch mit Menschen, die in vergleichbaren Strukturen arbeiten, einem kreativen Umfeld, das die eigene Arbeit positiv beeinflusst sowie individuell wählbaren Präsenz-und Arbeitszeiten. Viele Angebote sind für die Bedürfnisse bestimmter Berufsgruppen – Medien-Leute, Autoren, App-Developer oder Gründer sozial engagierter Unternehmen – zugeschnitten, so dass sich zwischen den Coworkern Synergien entwickeln können. Kleine Unternehmen mit einem technischen Produktportfolio finden in entsprechend ausgestatteten Coworking-Spaces neben einer Gemeinschaft Gleichgesinnter oft bessere infrastrukturelle Bedingungen, als sie sich mit ihren eigenen Ressourcen leisten könnten. Wenn sich Coworking mit einer Vision verbindet, entwickeln sich aus dem gemeinsamen Arbeitsraum heraus oft regelrechte Talente-Cluster.

Für Unternehmen ergeben sich aus den neuen Arbeitsformen viele produktive Chancen, wenn sie lernen, die Potentiale aller drei Virtualisierungswellen optimal zu nutzen und für deren Implementierung ein entsprechendes Change-Management zu betreiben. Kooperation in offenen, flexiblen und kreativen Strukturen, jedoch auf der Basis tragfähiger menschlicher Beziehungen, muss dafür die zentrale Zielvorgabe sein. In der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts ist sie die entscheidende Grundlage für Innovation und damit für Wettbewerbsfähigkeit sowie die Bindung von Talenten.

Praxistipps:

  • Definieren Sie Zusammenarbeit sowie das Schaffen entsprechender Strukturen als zentrales Unternehmensziel. Binden Sie bereits in der Definitionsphase hier jeden einzelnen Mitarbeiter ein. Entwickeln Sie eine kooperative Vision für Ihr Unternehmen.
  • Als Führungskraft sind Sie in der Pflicht, für jeweils konkrete flexible Kooperationsstrukturen klare Regeln, sinnvolle und transparente Kennzahlen zur Erfolgsmessung sowie die Grenzen aufzuzeigen.
  • Setzen Sie danach Vertrauen in Ihre Mitarbeiter. Projekt-Teams, welche das Coworking-Prinzip verstanden haben und gegebenenfalls durch entsprechende Coachings darauf vorbereitet wurden, sind fähig, sich selbst zu motivieren, organisieren und kreativ zu werden.
  • Regelmäßige Erfolgskontrollen sichern ab, dass alle Beteiligten ihre Verpflichtungen erfüllen.

Quellen:
http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/artikel/organisation-so-sieht-die-arbeit-der-zukunft-aus-a-882839.html
http://wissen.harvardbusinessmanager.de/wissen/leseprobe/107034119/artikel.html