Amazon: „Gläserner Kunde“ versus „gläserner Mitarbeiter“

Dass Jeff Bezos und Amazon dem ‚Imperator Kunde‘ huldigen, ist bekannt. Gerade hat das Unternehmen ein neues Patent erworben: Durch ‚vorausschauenden Versand‘  soll die Ware, die für einen bestimmten Kunden passt, schon zu diesem unterwegs sein, bevor er überhaupt Amazons gelben ‚Kaufen‘-Button betätigt hat. Bestimmte Waren verschickt der Online-Händler schon einmal an ein Versandzentrum in der Region, in der er einen oder mehrere Interessenten für ein Produkt vermutet. Bei einer Bestellung profitieren die Kunden nochmals von verkürzten Lieferfristen.
Motto: Woher sollen Sie wissen, was sie wollen, bevor Amazon es für Sie bestellt hat?

Das ‚Wall Street Journal‘ erklärt, wie Amazon diesen Effekt erreichen will. Zur Definition, was ein Kunde kaufen könnte, werden Wunschzettel, frühere Bestellungen, der Inhalt des Warenkorbes, Umtausche und sogar die Verweildauer auf einer bestimmten Produktbeschreibung ausgewertet. Aus Sicht von Amazon ist dieser Schritt eine notwendige Optimierung, die sich direkt aus den Gesetzmäßigkeiten des Online-Business ergibt: Kunden, die online shoppen, müssen etwas warten, bevor sie das gewünschte Produkt wirklich in den Händen halten können. Je kürzer dieser Zeitraum ist, desto sicherer kann Amazon sein, dass seine Kunden dem Konzern die Treue halten und nicht alternativ im stationären Handel shoppen. Ob der ‚gläserne Kunde‘ das Konzept auch unter datenschutzrechtlichen Aspekten goutiert, ist zumindest in Europa zunächst abzuwarten.

Die Amazon-Vision für Führung – ein gnadenloses Normsystem

Am anderen Ende von Amazons schöner neuer Einkaufswelt stehen keine begnadeten Verkäufer, sondern Jeff Bezos´ Idee von Online-Exzellenz und gnadenlosem Wettbewerb – sowie der ‚gläserne Mitarbeiter‘, dessen persönliche Stärken, Wünsche und Bedürfnisse im Amazon-Universum allerdings keine Rolle spielen. Wer sich für einen Job in den unteren Amazon-Hierarchien, also in den regionalen Versandzentren des Online-Riesen, entscheidet, profitiert zwar von niedrigen Einstiegshürden – Amazon gibt auch Bewerbern eine Chance, die in vielen anderen Unternehmen als ‚jobuntauglich‘ ausgemustert würden, unterwirft seine Mitarbeiter jedoch einem unerbittlichen und bis ins kleinste Detail durchgetakteten Normsystem.

‚Stern‘-Reporter Thilo Mischke hat sich im Weihnachtsgeschäft 2013 in einem Amazon-Versandzentrum als Aushilfskraft verdingt und beschreibt die Arbeitsbedingungen, in denen das Fußvolk des Konzerns agiert. De facto sind diese Mitarbeiter „menschliche Maschinen“, denen jeder Handgriff und vor allem die stündliche Anzahl von Transaktionen – erledigte Bestellungen – minutiös vorgeben sind. Pausen dürfen inklusive Wegezeiten exakt 20 Minuten dauern. Wer die Norm nicht schafft, Pausen überzieht oder krank wird, kassiert Minuspunkte. Bei sechs Punkten folgt die Kündigung – für eine Krankmeldung wird beispielsweise ein Punkt vergeben. Jeff Bezos´ Biograf, der US-amerikanische Buchautor und Journalist Brad Stone, schreibt, dass in den Amazon-Logistikzentren de facto Kriegsbedingungen herrschen. Die Aushilfen machen einen Knochenjob, können jederzeit entlassen werden und werden behandelt wie „vorübergehender Besitz“. Im Umgang mit seinen Führungskräften präsentiert sich Amazon nicht wirklich besser. Stone lässt in seinem Buch einen Amazon-Manager zu Worte kommen, der befindet, dass Bezos schlechte Mitarbeiter „auffrisst und wieder ausspuckt“, guten Mitarbeiter dagegen „auf den Rücken springt und sie zuschanden reitet“.

Effizienzmaschine oder kreatives Mitarbeiterpotenzial

Jeff Bezos hat mit Amazon letztlich eine gigantische Effizienzmaschine aufgebaut, der Faktor Mensch ist darin kaum mehr als ein Störungsfaktor. In den USA führt Bezos derzeit Experimente durch, inwieweit Roboter bei einfachen Tätigkeiten die menschliche Arbeitskraft ersetzen können. Die Frage ist, inwieweit sein Führungsstil das Führungsmodell der Zukunft ist. Auf den ersten Blick profitieren das Unternehmen und seine Aktionäre – der Aktienkurs von Amazon befindet sich permanent im Aufwind. Auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, wie zukunftsfähig das Modell Amazon im Hinblick auf andere Unternehmen tatsächlich ist.

Die eine Seite der Medaille ist die Zukunft des stationären Einzelhandels: Inzwischen legen – wieder nur für Deutschland und andere europäische Länder – verschiedene Studien nahe, dass Kunden sich hierzulande keinen absoluten Online-Fokus wünschen. Das E-Commerce entwickelt sich eher komplementär zum Einzelhandel, von stationären Händlern erwarten die Kunden Beratung, individuelle Kommunikation und personalisierten Service, was ihnen auch ein Perfektionist wie Bezos mit Amazon nicht hundertprozentig bieten kann. Die andere Seite sind die Wertigkeit und der Umgang mit der Ressource Mensch. Moderne Arbeitssklaven können sicher für einen begrenzten Zeitraum die Effizienz eines Unternehmens treiben – Nachhaltigkeit ist damit nicht verbunden. Die positive Alternative für Unternehmen ist, das kreative Potenzial ihrer Mitarbeiter zu aktivieren. Dafür brauchen diese Entscheidungsspielraum, die Möglichkeit zu Eigenverantwortlichkeit und persönlicher Entwicklung sowie eine Führung, die auf eine dialektische Beziehung von Autonomie des Einzelnen und den Unternehmensinteressen setzt.

Praxistipps:

  • Führung, die sich ausschließlich an Effizienzkriterien orientiert, setzt die kreativen Potentiale von Mitarbeitern außer Kraft.
  • Effizienz ohne menschliche Vision ist nur begrenzt zukunftsfähig.
  • Wenn Sie Fähigkeiten, Eigenverantwortung und Eigenständigkeit ihrer Mitarbeiter entwickeln, erschließen Sie für Ihr Unternehmen eine der wichtigsten Ressourcen für die Zukunft.

Quellen:

http://www.spiegel.de/netzwelt/web/neues-patent-amazon-will-schon-vor-der-bestellung-liefern-a-944252.html
„Stern“, No. 51/2013, Haben Wollen – Wie Amazon unsere Weihnachtswünsche erfüllt.

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