Führung im Wandel

Die Führungsstruktur in Unternehmen ist dem gesellschaftlichen Wandel inbegriffen. Betrachtet man die Unternehmensstruktur heute im Gegensatz zu vor dreißig Jahren, so kann man eine Veränderung beobachten, die viele Probleme und Begriffsunschärfen im Bereich Führung und Management erklärt. Diese Veränderung macht deutlich, warum es wichtig ist, sich über die Rolle von Führungskräften in Unternehmen ausführlich Gedanken zu machen und sie in ihrer Wichtigkeit wahrzunehmen.

Im Zuge der kulturellen Revolution gegen den aufblühenden Kapitalismus der siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde unter anderem mehr Freiheit und Individualität für Mitarbeiter in Unternehmen gefordert. Die Arbeit sollte menschlicher werden und wichtiger Bestandteil des eigenen Lebens sein: Selbstverwirklichung anstelle von Ausbeutung.

In den Folgejahren wurde unsere soziale Marktwirtschaft weniger restriktiv. Im Gegenzug für das Mehr an Freiheit wurde auch ein Mehr an Eigenverantwortung eingefordert, wodurch nicht zuletzt Sicherheiten für Arbeitnehmer wegfielen. Die kritische Bewegung gegenüber dem kapitalistischen System, in dem Arbeiter als Ressource verdinglicht und als Profitmaschine betrachtet wurden, verlor ihre Zugkraft, da die Kritikpunkte vom System selbst einverleibt wurden.
An die Stelle der ‚klassischen‘ Ausbeutung trat die Selbstausbeutung zur Kompensation der verlorenen Sicherheit und/oder im Namen der Selbstverwirklichung (Der Bäcker backt nicht mehr Brötchen, er „gestaltet Ihr Frühstück“. Der Autoverkäufer verkauft ein Lebensgefühl. Die Bio-Industrie verkauft ein gutes Gewissen.). Konsum, Arbeits- und Lebenswelt werden so miteinander verquickt, dass jeder zum Unternehmer in eigener Sache wird und sein Leben möglichst produktiv und effizient zu managen versucht.

Führung im Wandel

Doch wenn jeder sein eigener Unternehmer ist, muss keiner mehr für seinen Nachbarn Verantwortung übernehmen. Für mehr Freiheit wurden Sicherheiten abgeschafft. Die Selbstverwirklichung im Unternehmen hat sich in Selbstausbeutung jedes einzelnen Mitarbeiters verwandelt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: zu leisten oder zu gehen. Dadurch haben sich auch die Aufgaben der Führungskräfte verändert: Es geht nicht mehr darum, die eigenen Mitarbeiter zu motivieren, an das Unternehmen zu binden, zu unterstützen oder zu führen.

Der Druck auf den Einzelnen ist dadurch nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: die Privatsphäre und die Arbeitsrealität verschmelzen. Im Zusammenwirken mit weniger Sicherheiten führt das zu Zukunfts- und Versagensängsten. Die einen sind nicht für den Entscheidungswust, der täglich anfällt, ausgebildet. Die anderen sind nicht dafür gemacht, sich selbst zu führen, sondern sind auf klare Anweisungen angewiesen.

Im Zuge der Globalisierung, der Deregulierung der Märkte und des sich durch moderne Technologien immer schneller drehenden Weltgeschehens, fordert ein Arbeitgeber von seinen Mitarbeitern heute Flexibilität, Eigenverantwortlichkeit, Leistung und Mobilität, ohne dabei Persönlichkeitsmerkmale, Umgebung und familiäre Situation des Einzelnen zu beachten. Jeder muss selbst entscheiden. Aus Freiheit wird Zwang zur Freiheit.

Georg Simmel unterscheidet zwischen der äußeren und der inneren Freiheit: Die äußere Freiheit ist in Deutschland größer als jemals zuvor. Doch aufgrund des Leistungszwangs, der Unsicherheit in Sachen Zukunft und der Überindividualisierung unserer Gesellschaft, verkümmert unser Sozialgefüge immer mehr. Die innere – die gefühlte – Freiheit ist demgegenüber sehr klein. Ängste, Überarbeitung und Druck bestimmen die Arbeitsrealität vieler Arbeitnehmer.

Was bedeutet dies für die Führungskultur in Unternehmen?

Anstelle von „Führung“ spricht man von „Management“, wobei die Begrifflichkeiten gerne einmal durcheinander purzeln. Es wird organisiert und verwaltet aber nicht geführt. Und wer nicht passt oder nicht genügend leistet, fliegt. Die Verantwortung liegt dabei bei jedem einzelnen – ganz im Sinne der amerikanischen ‚Hire-and-fire‘-Mentalität..

Heute müssen sich alle Arbeitnehmer eines Unternehmens vor allem auf sich selbst berufen und Führungskräfte im Besonderen haben keine Kapazitäten mehr frei für die tatsächliche Führung von Mitarbeitern. Das würde das Wissen um persönliche Umstände der Untergebenen und den richtigen Umgang damit einschließen. Soziale Verantwortung muss auf höchster Führungsebene anfangen und versagt die Geschäftsführung, ist dies in allen weiteren Ebenen zu spüren (Der Fisch stinkt vom Kopf.). Wenn die Geschäftsführung eines Unternehmens aber nicht bereit ist, diese Verantwortung zu übernehmen und eben nicht das Potential – sondern lediglich die Leistungskurve – jedes Mitarbeiters als relevant betrachtet, entstehen Probleme, die in letzter Konsequenz zur Ineffizienz führen. Dies zeichnet sich in unseren Nachbarländern und in den USA, in denen es keinen stabilen Mittelstand gibt wie bei uns, aber auch in Deutschland immer deutlicher ab.

Es liegt nahe, dass gesellschaftliche Prozesse unmittelbar auf die Führungskultur eines Unternehmens Einfluss haben. Die Führungskultur steckt in einer Krise, denn das Managen alleine genügt nicht, um die Werte eines Familienunternehmens an seine Mitarbeiter weiterzugeben. Fehlende Führung und fehlende Identifikation mit dem Unternehmen haben zur Folge, dass Mitarbeiter frustriert sind und weniger produktiv arbeiten als sie könnten. Die Revolution, im Sinne eines Gewinns an Freiheit und mithin von Produktivität, hat sich selbst gefressen.

Was kann getan werden?

Da die soziale Struktur in der Gesellschaft schwach geworden ist, müssen Unternehmen umso mehr Wert darauf legen, sie innerhalb der Arbeitswelt zu stärken.

Mitarbeiter von Unternehmen sollten als selbstständige Individuen wahrgenommen werden. Aber Individualismus kann nur in einem funktionierenden sozialen Gefüge erlebt werden (Erst durch den anderen erfahren wir uns selbst.). Es macht keinen Sinn, wenn eine Führungskraft ihre Untergebenen allein lässt und keine Verantwortung übernehmen will. Dabei geht es nicht nur um Entscheidungen, die getroffen werden müssen, sondern vor allem um die soziale Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern. Die Identifikation mit dem Unternehmen funktioniert nur über eine aufzubauende Beziehungsebene zwischen Mitarbeitern und Führungskraft, die durchaus professionell sein kann (‚Persönlich‘ heißt nicht gleich ‚privat‘.). Die Werte, für die ein Unternehmen einsteht, müssen auch an Mitarbeiter kommuniziert werden. Dabei dürfen sie sich in einem dialektischen Spannungsfeld bewegen, denn scheinbar widersprüchliche Werte wie ‚Veränderung‘ und ‚Kontinuität‘ bauen letztlich auf demselben Fundament auf und lassen sich deswegen sehr gut vereinen.

Führung ist lernbar! Jedoch nur, wenn die Bereitschaft zur Führung vorhanden ist. Führung bedeutet nicht die Entmündigung von Persönlichkeiten. Vielmehr ist gute Führung Voraussetzung für das Wahrnehmen von Individuen im eigenen Kreis. Denn nur wer sich die Zeit nimmt, seine Mitarbeiter auch persönlich kennenzulernen und darüber hinaus eine professionelle Gesprächskultur entwickelt, die mit den gegebenen Hierarchien umgehen kann (Es gibt nun mal Chef und Untergebene – die Frage ist, wann man diese Hierarchien produktiv einsetzt), kann davon ausgehen, dass seine Mitarbeiter gut arbeiten und sich gerne und eigenverantwortlich einbringen. Unsere Lebenswelt ist heute so komplex und unübersichtlich, dass ein Rahmen für die Arbeitswelt unumgänglich ist, um handlungsfähig bleiben zu können. Diesen Rahmen gilt es von Führungskräften zu setzen und an Veränderungen anzupassen.

Quellen:

1. Christoph Menke und Juliane Rebentisch. Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Kulturverlag Katmos (2011).

2. Elisabeth Dostert. Ein deutsches Phänomen Süddeutsche.de am 2. März 2014 um 16.51 Uhr

3. Die 6 Erfolgsprinzipien der Führung – Teil 1: Auf die richtigen Werte kommt es an

 4. John Coleman. Leadership is not a solitary task Februar 2014