„Führung ist eine Glaubensfrage“ (Dr. Thorsten Bosch)
Ein Fachbeitrag von Dr. Thorsten Bosch
Führung als persönliches Anleiten, Betreuen und Schulen der Mitarbeiter durch die Führungskraft steht heute in vielen Unternehmen kaum noch im Fokus.
Stattdessen nennen sich die modernen Führungskräfte Manager und beschäftigen sich in erster Linie mit unternehmerischen Kennzahlen, Prozesssteuerung und damit, was auf Zahlenebene getan werden muss, um die Gewinne schneller in die Höhe zu treiben.
„Mitarbeiter sind zweitrangig“, so titelte auch schon die Tageszeitung ‚Die Welt‘ und führte an, dass es nur noch in sieben von 30 Dax-Konzernen einen eigenen Personalvorstand gibt. Bei allen anderen DAX-Unternehmen ist diese Aufgabe, die heute meist Human Resource (HR) genannt wird, an andere Vorstandsposten gekoppelt. In fünf Dax-Unternehmen ist beispielsweise der Finanzvorstand gleichzeitig Personalvorstand und in zwei Dax-Unternehmen fällt der Aufgabenbereich sogar dem Vorstandsvorsitzenden zu. Das Personalressort wird stiefkindlich behandelt. Weiter untermauern lässt sich dies auch mit einem Blick auf die Gehaltsunterschiede. Personalvorstände stehen im Vergleich zu ihren Vorstandskollegen am Ende der Gehaltsliste und verdienen im Schnitt 200.000 Euro weniger.
Führung ist zu einer Glaubensfrage geworden – und nur noch wenige in den Chefetagen bekennen sich dazu.
Doch warum ist das so?
Viele Faktoren im Unternehmen lassen sich kalkulieren – wie beispielsweise die Investition in neue Anlagen mit dem Return on Investment (ROI). Für Führung als Investition in die eigenen Mitarbeiter lässt sich jedoch keine Kapitalrendite veranschlagen. Ebenfalls lässt sich der Aufwand für Führung nicht abschreiben, wie es bei technischen Geräten, Büroausstattung oder Soft- und Hardware der Fall ist. Im Gegenteil: Mitarbeiter werden zusehends zu Risikofaktoren, die Lohnkosten verursachen und kaum ohne Frist gekündigt werden können. Um dieses Risiko zu minimieren, werden insbesondere einfache Tätigkeiten outgesourct und Zeitarbeitsfirmen beauftragt. Hinzu kommt erschwerend, dass eine qualitative Führung der Mitarbeiter nicht sofort eine lineare Steigerung der Gewinne generiert. Ihre Ergebnisse zeigen sich nur langfristig, dann aber steigt der Erfolg exponentiell. Insbesondere in börsennotierten Unternehmen sind die CEOs heute beinahe systembedingt gezwungen, die Performance Quartal für Quartal zu steigern und ihren Blick hauptsächlich auf die nackten Zahlen zu richten, um den Aktionärswert zu erhöhen. Also wird an den Mitarbeitern gespart, finanzielle Mittel für Weiterbildungen gestrichen und das HR-Ressort verliert an Bedeutung.
Die Zukunft lässt sich nicht (immer) berechnen
Controlling-Zahlen sind immer wie ein Blick in den Rückspiegel. Als Basis werden Faktoren aus der Vergangenheit herangezogen und daraufhin Zielvorgaben für die Zukunft errechnet. Doch gerade heute, in Zeiten digitalisierter Märkte, wo nichts so beständig ist, wie der Wandel, lässt sich die Zukunft nicht berechnen. Unvorhergesehene Faktoren wie beispielsweise Verhaltensänderungen der Konsumenten, politische Krisen oder Preiserhöhungen bei Rohstoffen werden in jeder Kalkulation nur unzureichend widergespiegelt. Ein Unternehmen ist ein komplexes System und dieses lässt sich nicht langfristig erfolgreich leiten, indem sich nur auf Parameter, Messgrößen oder Fixpunkte konzentriert wird: Es liegt ein beinahe explodierendes Gitternetz an quantitativen Messgrößen vor. In Bezug auf qualitative Richtwerte besteht jedoch ein blinder Fleck. Leider nimmt dieser Kennzahlen- und Controlling-Fetischismus in Zeiten des ‚höher, schneller, weiter’ und des Shareholder-Value eher zu. Jedoch gilt für Unternehmer das Gleiche wie für einen Langstreckenläufer: Wie schnell man auf den letzten tausend Metern war, gibt keine Auskunft über das Tempo auf der kommenden Strecke!
Führung braucht Raum
Es fehlt nicht nur eine passende Formel, mit der sich die Ergebnisse einer qualitativen Mitarbeiterführung in Kennzahlen ausdrücken lassen, es fehlt heute vielmehr der Raum dafür. In Zeiten der Globalisierung, des großen Konkurrenzdrucks und der allumfassenden Information sind die Abläufe in den Unternehmen minutiös durchgetaktet. Man nähert sich der totalen Prozessoptimierung. Die Mitarbeiter werden ein Teil dieses Prozesses, ein Rad im Getriebe, das nicht ausfallen darf. Ähnlich geht es den Führungskräften: Meetings, Projektmanagement, Administration und permanente Erreichbarkeit haben Vorrang. Für das persönliche Gespräch mit den Mitarbeitern, das Leiten und Führen bleibt keine Zeit. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Managen oder Führen? Und selbst wenn manche Führungskräfte gerne ihrer Aufgabe nachkommen und führen möchten, statt zu managen, so wird das durch die eng getakteten Abläufe im Unternehmen zunehmend verhindert.
Stolperfallen bei der Personalentwicklung
Unter diesen Rahmenbedingungen ist es umso lobenswerter, wenn Unternehmen überhaupt Personalentwicklung betreiben. Doch ein weiterer Hemmschuh für die Personalentwicklung ist die oft mangelnde Wirksamkeit vieler Maßnahmen, beziehungsweise, dass die Wirkung oft nicht quantitativ messbar ist. Auch deshalb verlieren Führungskräfte häufig den Glauben in die Entwicklungsfähigkeit der Mitarbeiter. Dabei ist der Mangel meist hausgemacht: Es gibt eine Vielzahl von Fehlern, die Unternehmen im Rahmen von Organisationsentwicklungs- und Veränderungsprogrammen immer wieder begehen und die zur Vernichtung stattlicher Budgets führen. Budgets, die – richtig eingesetzt – einen großen ROI ergeben könnten.
Einer der Wirkungshemmer ist beispielsweise das Gießkannen-Prinzip, bei dem das ‚Medikament’, ohne eine Auswahl nach spezifischen Kriterien zu treffen, großflächig verteilt wird. Oft werden alle Mitarbeiter einer Hierarchiestufe nur aufgrund der Zugehörigkeit zur gleichen Zielgruppe zu ein- und derselben Maßnahme geschickt. Es wird nicht unterschieden, wie weit sie in ihrer Entwicklung bereits vorangekommen sind, ob sie einem Training überhaupt positiv gegenüberstehen oder gar ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Entwicklungsmaßnahmen haben. Dabei wird der Einfluss einer negativen Gruppendynamik unterschätzt: Gibt es mehrere Teilnehmer, die sich der Weiterbildungsmaßnahme verschließen, können diese den Lernerfolg der gesamten Gruppe minimieren. Ein weiterer Aspekt, der sich kontraproduktiv auswirkt, ist eine unklare Kommunikation der Ziele der Weiterbildungsmaßnahme. Aufgrund dessen wird die Weiterbildung oftmals zu einem Forum, in dem das Personal seinen Unmut äußert, oder in dem an den Notwendigkeiten vorbei gearbeitet wird und die Mitarbeiter anschließend – wenn überhaupt – nur das umsetzen, was ihnen gut gefällt.
Doch es scheitert vielfach nicht nur an der Vorbereitung und effektiven Durchführung. Nicht zuletzt werden Seminare und Fortbildungen oft unzureichend bis gar nicht nachbereitet, es fehlt mithin jedes Moment der Nachhaltigkeit. Nach dem Training sollte die direkte Führungskraft beispielsweise aktiv beim Mitarbeiter nachfragen, welche Umsetzungsziele er sich vorgenommen hat und die Entwicklung aktiv begleiten. Auch ein ‚Realitäts-Schock‘ kann kontraproduktiv wirken. Läuft bei der Fortbildung alles gut, kommen die Mitarbeiter hoch motiviert an ihren Arbeitsplatz zurück und versuchen, die neu erlernten Verhaltensweisen in ihrem Arbeitsalltag anzuwenden. Doch was im geschützten Raum der Seminargruppe unter Anleitung noch gut funktioniert hat, lässt sich vielleicht schon beim ersten Kunden nicht umsetzen.
Ein Großteil wirft daraufhin schnell die Flinte ins Korn. Letztlich trägt die übergeordnete Führungskraft die Verantwortung dafür, dass neue Lerninhalte in tägliche Routinen überführt werden, doch genau das wird oft vernachlässigt. Und was die Ausbildung der Führungskräfte selbst betrifft, gilt hier der Grundsatz: Der Stellenwert der Führung beginnt mit der Entwicklung der Führungskraft. Unternehmen, die ernstlich glauben, mit einem Seminar von zwei Tagen jährlich eine Führungskraft heranzubilden, haben den Stellenwert von Führung noch nicht verstanden. Dabei muss man nur den Vergleich zum Sport ziehen, um dies zu verdeutlichen: Kein Sportler, und sei er noch so gut veranlagt, würde sich anmaßen, mit nur zwei Tagen Training im Jahr mit den Profis mithalten zu können.
Die Renaissance des Industriemeisters als Vorbild
Die Zahl derer, die Führung für relevant halten, sinkt auch, weil kein gemeinsamer Konsens mehr darüber besteht, was sie ausmacht und welche Wirkung sie entfalten kann. Hier lohnt ein Blick darauf, wo wir herkommen: In vielen mittelständischen Unternehmen galt über Jahrzehnte das Credo, qualitativ hochwertige Produkte zu erzeugen, die die Kunden zufriedenstellen. Vom Unternehmer getragen und gelebt, wurde dies über die Führungskräfte jeden Mitarbeiter vermittelt. Das gemeinsame Ziel sorgte für klare Werte und Zugehörigkeit. Deutschlands Wohlstand basiert also auf einem klaren Führungsbewusstsein, das sich am besten am Konzept des Industriemeisters verdeutlichen lässt. Dieser wusste zum Beispiel, dass kein Auto perfekt vom Band läuft ohne das Können eines jeden einzelnen Mitarbeiters. Er wusste überdies, dass es in seiner Verantwortung lag, sein Können und Wissen sowie diese Werte zu vermitteln.
Wir sind heute weit davon abgekommen. In unserer schnelllebigen und globalisierten Welt wird vorrangig über engmaschigere, kleinschrittigere Prozesse indirekt zu führen versucht. Dazu werden mitunter die Abfolgen von Tätigkeiten bis ins kleinste Detail genau vorgeschrieben, wobei die Führungskraft aus der Verantwortung genommen wird.
Stattdessen sollten wir uns zurückbesinnen auf den Aspekt der persönlichen, direkten, verbindlichen Führung von Mitarbeitern und uns bewusst machen, wie groß der Wertschöpfungsbeitrag ist, der dadurch für das Unternehmen erzeugt wird. Eine gute Führung vermag nicht nur Mitarbeiter hervorzubringen, die ihre persönlich beste Leistung geben möchten, sondern die motiviert sind und sich dem Unternehmen zugehörig fühlen. Das erhöht den Wirkungsgrad der Führung und kann wesentlich zu einem langfristigen Unternehmenserfolg beitragen.