Die Lehre der Säbelzahntiger

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Krise! Gefahr! Todesgefahr!
Anstöße, um archaische Reaktionsmuster zu überwinden

1914/15. Erster Weltkrieg. Die große Krise, das große Sterben, abertausende traumatisierte Soldaten. Diesen Krieg begleitet der US-amerikanische Physiologe Walter Bradford Cannon als Wissenschaftler – aus seinen Beobachtungen über traumatische Schocks geht das bekannt gewordene Kampf-oder-Flucht-Reaktionsmuster hervor.

Vor gut 30 Jahren erweiterte der britische Psychologe Jeffrey Gray die Kampf-oder-Flucht-Sequenz von Cannon. Seitdem lautet sie Starre – Flucht – Kampf – Furcht (Freeze – flight – fight  – fright).

Diese Reaktionsmuster aus prähistorischer Zeit leben auch im ‚modernen‘ Menschen fort – vom einfachen Arbeiter bis zum Konzernchef. Daher können wir die Muster in der aktuellen, wirtschaftlichen Krise beobachten.
Aber was heißt hier Krise? In Zeiten von Corona ist es oftmals – leider im wahrsten Sinne des Wortes – ein Überlebenskampf.

Starre – Flucht – Kampf – Furcht ist eine Art evolutionären Programmcodes, der den Menschen und vielen anderen Tierarten geholfen hat, in einer immer wieder feindselig geprägten Welt zu überleben – wohlgemerkt als Gattung. Das einzelne Individuum kann trotzdem der Säbelzahntiger angefallen haben.

Seit 2020 schleicht nun ein Säbelzahntiger namens ‚Corona‘ vor unseren Höhlen herum. Er hindert uns, dass wir uns weit aus unseren Höhlen wagen, um zu jagen und zu sammeln. Und seit ebenso vielen Wochen arbeitet unser Programmcode. Er löst bei den meisten Menschen akuten Stress aus – einschließlich der meisten Stammeshäuptlinge, die sich und ihre Sippe versorgen wollen.
Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Häuptlinge metaphorisch für die Unternehmensführer stehen. Für die politischen Führer – wenngleich nicht Thema dieses Artikels – gilt das im Übrigen mindestens genauso.

Starre

Erkannten wir ehedem den Säbelzahntiger, passierte folgendes: Wir wurden binnen Sekundenbruchteilen regungslos und beobachten die offensichtliche Gefahrenquelle. Vielleicht erkennt uns der Tiger dann nicht und zieht weiter. Das passiert reflexhaft, es bedurfte und bedarf auch heute keiner intellektuellen Leistung.

Heute stellt sich die Gefahr aber anders dar. Wir sehen sie nicht ganz konkret. Wir wissen nicht genau, wie sie uns bedroht. Dafür bedroht sie uns kontinuierlich über eine lange Zeit.  Doch der wahrscheinlich größte Unterschied:

„Die Welt war vor dem Säbelzahntiger die gleiche wie danach.
Das ist heute wenig plausibel.“

Aktuell erhalten viele Unternehmen und Arbeitnehmer Geld vom Staat. Das ist gut und richtig. Das Geld baut eine Brücke. Nur…

  • …ändern sich nicht einige Rahmenbedingungen fundamental und unumkehrbar? Führt die Brücke wirklich zurück in eine Welt, wie sie vor der Krise war?
  • Selbst wenn dem so wäre, ist die Brücke lang genug? Es gibt Studien, die erst für 2030 von einem Wirtschaftsniveau wie vor der Krise ausgehen.
  • In vielen Fällen kommt die Brücke schon nicht aus der Normalität. Dann nämlich, wenn wir von ‚untoten‘ Unternehmen sprechen, deren Geschäftsmodell eigentlich schon lange nicht mehr funktioniert. Unternehmen, die schon vor der Corona-Krise kränkelten, weil bspw. die Margen unter extremen Druck standen, sich das Umfeld schon lange geändert hatte und die nur das billige Geld der EZB noch über Wasser hielt.

Jedenfalls sind die ‚Überbrückungsgelder‘ keine Investitionen. Es gibt keinen Return on Investment. Im besten Fall verhindern sie größere Schäden an den Vermögenwerten und durch Fluktuation. Im schlechtesten läuft man in die ‚Sunk Costs‘-Falle, indem dem schlechten Geld gutes hinterhergeworfen wird.
Die Verlockung der Gelder ist, dass sie die Beibehaltung eines Status quo – der Starre – alimentieren.

In der vor-zivilisatorischen Zeit waren einfache, monokausale, sequenziell ablaufende Reiz-Reaktions-Schemata ein bewährtes Konzept für eine Welt mit ganz wenigen ‚Marktteilnehmern‘ (in unserem Beispiel nur zwei). Nicht-Handeln (Starre) hatte bei ‚Tiger-Alarm‘ ihren Platz.

Die moderne, vernetze Welt ist hingegen voll mit Teilnehmern am (Markt-)Geschehen und mit Wechselbeziehungen zwischen all diesen. Alles beeinflusst alles. Ein Eingriff in das Wirtschaftsleben von der Tragweite des Corona-Lockdowns löst also eine Kaskade an Folgereaktionen unzähliger Teilnehmer aus, die zwangsläufig auch irgendwie das eigene Unternehmen betreffen. Wenn man sich das allein vor Augen führt, kann ein unreflektiertes Nicht-Handeln keine adäquate Reaktion sein.
Wer beim Säbelzahntiger sagt, „ich lasse den mal auf mich zukommen“ hat irgendwann keine Reaktionszeit mehr, um sich flucht- oder kampfbereit zu machen. Und ähnliches gilt für den Manager; er verkürzt sich die Reaktionszeit, wenn die Gefahr andauert oder sogar verschärft. Ihn zerfleischt dann nicht der Tiger, sondern der Markt.

Bildquelle: panthermedia.de

Flucht

Der Säbelzahntiger streift immer noch vor unseren Höhlen herum, kommt sogar näher. Die zweite Stufe unseres evolutionären Programmcodes ist meistens die Flucht. Wir wollen uns aus der Affäre ziehen, Abstand zur Gefahrenquelle gewinnen, uns klein machen und verstecken, bis die Säbelzahntiger an uns vorübergezogen ist.

Der Grundfehler in unserer Welt ist wieder die Annahme, die Welt mit ihren Rahmenbedingungen bliebe eigentlich die Gleiche. Und so extrapoliert man wie ein mittelprächtiger Börsenchartanalyst die Zukunft aus der Vergangenheit und hofft auf eine Art Selbstregulation (des Marktes): „Wir müssen uns zwischenzeitlich verkleinern, schlanker, agiler und effizienter werden – dann wird es schon wieder werden.“
Cost-cutting ist oft die vermeintliche Zauberformel, um das alte Modell zu retten. Ein paar Clanmitglieder (Mitarbeiter) werden dem Tiger noch zum Fraß vorgeworfen, glaubend, dass der Tiger so lange daran zu knabbern hat, um dem Rest des Clans genug Zeit und Vorsprung zu geben.

In unserer ökonomischen Welt ist die Phase der Flucht eine Flucht vor der intellektuellen Auseinandersetzung. Es wird sich dem Umstand verweigert, dass das alte Geschäftsmodell unter den neuen Rahmenbedingungen womöglich nicht mehr in gleicher Form funktioniert… In dieser Phase treten dann auch häufig Ratgeber auf den Plan. Nicht, dass sie es böse mit einem meinen, aber wer ist schon ohne eigene Agenda? Ich kann jedem nur raten: Wenden Sie sich an einen unbefangenen Ratgeber und Sparringspartner, mit dem Sie ihre Analysen und Pläne reflektieren.

Handelte es sich nur um eine konjunkturelle Delle, wäre die Vorgehensweise des „wir sparen wieder herein, was wir verloren haben“ unter Umständen richtig. Reden wir aber von einem veritablen, evolutionären Umbruch, dann reicht keine Diät. Dann muss am Gen-Code des Unternehmens gearbeitet werden, und zwar so schnell wie möglich. Keine Zeit mit Alibi-Maßnahmen vergeuden!

‚Kleinducken‘ mitsamt der Qualitätsverluste, weil wir den Fuhrpark ein Jahr länger betreiben, den Service an der Maschine einmal aussetzen, die Mitarbeiter aufhören zu schulen, ein paar Verkäufer weniger auf die Fläche schicken usw., ist weder eine gute noch eine nachhaltige Strategie.

„Das Gleiche auf niedrigerem Niveau zu tun, ist keine Form der Therapie.
Es ist verlängertes Siechtum, das zum sicheren Tod führt.“

 

Bildquelle: panthermedia.de

Kampf

Der Säbelzahntiger hätte es nicht zu solcher Berühmtheit und in unser Kleinhirn geschafft – Abteilung Notfallplan –, wenn die Phasen ‚Starre und Flucht‘ früher nicht oft die Rettung gebracht hätten.

Nehmen wir jedoch an, der Säbelzahntiger macht sich zum Sprung bereit. Was sich in der Natur meistens als ‚Flucht oder Kampf‘ darstellt, ist in unserem Kontext ‚Erst Flucht(-versuch), dann Kampf‘.

Wobei Kampf nicht gleich Kampf ist. In dem einen Fall haben wir es mit einem (!) erkennbaren Feind zu tun. Im anderen Fall mit einer Vielzahl unsichtbarer, aggressiver Gegner, die zu allem Überfluss auch mein Umfeld und meinen Clan infizieren. Ich werde aus vielerlei Richtung bedroht.

Der gute Weg wäre, sich schnell dem Kampf zu stellen, um nicht nach einem kurzen Kampf in Furcht zu verfallen. Wir müssen unseren alten Instinkt überwinden und einen neuen Notfallplan etablieren, der die Dynamik der Gegner anerkennt… zumal es nicht die letzte Krise dieser Art gewesen sein dürfte.

In seiner ‚hässlichen‘ Form wird der Kampf zum Todeskampf. Dann wird nach allen Strohhalmen gegriffen – bspw. indem man sich an das anhängt, was alle anderen machen. Aktuell überschwemmt uns doch eine Flut an Webinar-Angeboten. Wie viele davon, glauben Sie, kommen wirklich über eine signifikante Wahrnehmungsschwelle? Je mehr Unternehmen sich um ein ähnliches Geschäftsmodell balgen, desto größer die ‚Long Tail‘-Problematik.
Aus Scheu vor unangenehmen Analysen bleiben Unternehmen ohne strategische Ausrichtung. So mutiert die Phase des Kampfes zu einem – im wahrsten Sinne des Wortes – blindwütigen ‚Um-sich-schlagen‘. Man kann Glück haben, strampelt lange genug und bekommt noch einen Konkurrenten vor die Klauen des Tigers geschoben – man kann aber auch Pech haben.

Der richtige Weg wäre, sich schnell dem Kampf zu stellen. Wie im ersten Teil beschrieben, müssen wir die Dynamik des Kampfes anerkennen und die Bewegungen der zahlreichen Beteiligten antizipieren. Das zwingt uns, ein paar grundlegende Überlegungen anzustellen, bevor wir vielleicht den falschen Kampf kämpfen und uns in einer üblen Rauferei wiederfinden.
Es ist nicht der eine Säbelzahntiger, der, wenn erschlagen, für uns den Sieg bedeutet. Es ist ein ‚Cocktail‘ an Veränderungen im Gesamtgefüge, der zum Sieg führt. Der Kampf beginnt immer mit einer sauberen Vorbereitung, die äußerlich betrachtet wie Starre aussieht, wo es aber ‚ans Eingemachte geht‘.

Können Sie bei Einbruch der Krise, die uns so eiskalt erwischt, die alten Reflexe unterdrücken; insbesondere auch den Selbstberuhigungsreflex „Es wird schon nicht so schlimm werden…“?

Sind Sie bereit, um des Unternehmens (bzw. Lebenswerkes) Willen, mit sich selbst in den Konflikt zu gehen? Halten Sie eine ungeschminkte Reflektion über das Ausmaß der Situation aus – gerade auch emotional?

Der rational anspruchsvolle Teil, die ‚Durchleuchtung‘ des Unternehmens:

  • Haben Sie den notwendigen Blick in die Vergangenheit, um den Nucleus freizulegen, auf den sich das Unternehmen bis hierhin stützt? Also seine Einzigartigkeit, seine Assets, seine Verfahren, seinen USP oder was auch immer …
  • Haben Sie den notwendigen Blick in die Zukunft, um kritisch zu bewerten, ob der festgestellte Nucleus in der Welt nach der Krise noch seine Berechtigung hat?
  • Sind Sie zur Katharsis bereit (vgl. Grafik)? Können Sie alles in Frage stellen, was hierzu keinen direkten Beitrag liefert (Projekte, Prozesse, Produkte, Verfahren, …)?
    Können Sie ggf. auch Liebgewonnenes im Sinne einer Selbstreinigung loslassen und neue Impulse aufnehmen?
  • Halten Sie die tiefgehenden Fragen aus und kommen Sie trotzdem zu einem konsistenten Entschluss, um mit zügig angeordneten Aktionen die ‚Sache zu richten‘?

Katharsis heißt N I C H T, dass es D I E eine Lösung gibt. Katharsis ist der mitunter schmerzhafte Prozess der Annäherung an eine mögliche Lösung!

  • Die Analyse der Vergangenheit muss zwingend mit der Identifizierung des Nucleus (Unternehmenskern / USP) enden.
  • Die Prognose der Zukunft muss mit der Abbildung eines sauberen Modells enden, das die wesentlichen Rahmenbedingungen für das eigene Unternehmen in den wahrscheinlichen Szenarien aufgreift – das ‚new-normal‘.
  • Die Synthese, der Endpunkt der Vorbereitungen zum Kampf, muss eine systematische Roadmap mit dem neujustierten Geschäftsmodell (Re-Engineering) in den Jahren nach Corona / der Krise sein.

„Dieser Weg ist klar und einleuchtend. Die Herausforderung liegt auch nicht darin, diesen Weg zu verstehen, sondern ihn zu gehen – emotional und rational.“

 

Das gilt umso mehr, als am Wegesrand gefährliche Botschaften lauern, wie „Warum das alles? Bisher war alles richtig, sonst hätten wir ja gar nicht erst erreicht, wo wir jetzt stehen…“. Sie verführen uns

  • zurück in die Starre: „Es wird nicht anders gehen…“
  • zur Furcht „… wir haben ja alles getan …“ (vgl. nächster Abschnitt)

Sie sollten sich hiervon nicht beeinflussen lassen. Es kostet die Zeit, die Sie brauchen, um zu analysieren und das Unternehmen neu auszurichten.

Die Überwindung der Krise bzw. bzw. die Anpassung an die neue Umwelt ist also zusammengefasst eine Frage der inneren Haltung und der Klarheit!

  • Innere Haltung als Mut, mich den unangenehmen Fragen und Analysen zu stellen und als Pflicht- bzw. Verantwortungsbewusstsein
  • Klarheit als der Fähigkeit, mich den (Flucht-)Reflexen entgegenzustellen und sich auf den Wesenskern des (künftigen) Unternehmens zu fokussieren

 

„Wenn wir aber gar keine substanzielle Krise, keine Zeitenwende erleben?
Dann ist das im Grunde völlig egal, denn Selbstüberprüfung und Selbstreinigung sollten regelmäßig stattfinden! Die Krise ist nur ein mächtiger Anlassgeber, der die Dringlichkeit bewusst macht!“

 

Furcht

Auge in Auge mit dem Tiger stellen wir fest, „Verdammt nochmal, sind das scharfe Zähne. Warum bin ich nicht in meiner Höhle geblieben?“ Die letzte Phase ist dann die Kapitulation. Manch unterlegenes Tier bietet als Unterwerfungsgeste noch den Hals an und hofft auf eine Beißhemmung.

Was bleibt in der Welt des Unternehmers, wenn er den (richtigen) Kampf verpasst hat? Gnade ist kein gängiger Bestandteil des Marktgeschehens – außer ‚Vater Staat‘ lässt seine ‚Güte walten‘ und interveniert, wie wir es bei einigen großen Unternehmen dieser Tage sehen werden. Wobei wir nicht wissen, ob das für die Akteure und Steuerzahler eine gute Lösung ist.

Was ansonsten kommt, sind die Insolvenz oder die Einverleibung durch den triumphierenden Konkurrenten. Soweit lassen wir es besser nicht kommen!

 

Fazit

Nachdem ich das etwas martialische Bild eines evolutiven Überlebenskampfes bemüht habe, liegt es nahe, kurz Darwin zu streifen. Seine berühmte und oft falsch interpretierte Formel ‚survival of the fittest‘ behauptet nämlich mitnichten das Überleben des Stärkeren, sondern jener Spezies, die sich an ihre Umwelt anzupassen versteht. Es ist eben nicht zwingend die Giraffe mit dem längsten Hals, die sich durchsetzt. Es ist diejenige, die einen Hals in der richtigen Länge besitzt, um an das beste Futter zu kommen, an das sonst keiner in der Gegend rankommt!

Genauso muss die Spezies ‚Unternehmen‘ den evolutionären Impuls der (Corona-)Krise aufnehmen, um sich zu erinnern: „Wir müssen uns wieder anpassen, unsere Unternehmens-DNA und unsere Unternehmenskultur überprüfen. Wir müssen uns von unseren alten Reflexen emanzipieren. Wir – und ich als Unternehmensführer besonders – müssen bereit sein, die Schmerzen auszuhalten, die die Katharsis mit sich bringt.“

Der Säbelzahntiger wird in anderer Gestalt immer wieder unsere Höhlen heimsuchen. Wohl dem, der dann im Training ist, wie man eine Krise bewältigt. Und für das Training – das als frohe Botschaft – nehmen Sie sich einen Sparringspartner, der für die Haltung und Klarheit sorgt.