Die Lehre vom Strömungsabriss
Von Strömungsabriss, Corona und Nachhaltigkeit
Oder: Was können wir von der Aerodynamik in die Unternehmen übertragen?
So, wie sich die unternehmerische Lage in Deutschland – und darüber hinaus – aufgrund der zurückliegenden Corona-Lockdowns darstellt, drängt sich mir immer wieder der Vergleich mit der Aerodynamik auf und ich stelle mir die Unternehmen als Flugzeuge vor. Ich denke, aus dieser Metapher heraus lässt sich einiges in die Welt des Wirtschaftens übersetzen.
Ein kurzer Prolog zur Strömungsmechanik
Wenn ich gleich ein paar Zeilen zur Physik schreibe, sollte ich vorneweg schicken: Ich bin kein Physiker, schon gar keiner für Aerodynamik bzw. die übergeordnete Disziplin der Strömungsmechanik. Genauso wenig ist dies eine Fachmagazin für Flugzeugingenieure. Es geht nur um die Idee, nicht um absolute Genauigkeit…
Die Basis des Fliegens ist der Auftrieb. Er entsteht als himmelwärts gerichtete Kraft an den Flügeln. Wenn wir mit der Kraft der Turbinen (bzw. des Kerosins) ‚vorwärts gegen‘ die Luft fliegen, umströmt die Luft die Flügel. Ihre Formung bringt zwei Effekte mit sich: Erstens ein Unterdruck auf der Oberseite des Flügels, der quasi ‚nach oben zieht‘. Zweitens bekommt die Luft unterhalb des Flügels einen nach unten gerichteten Beschleunigungsimpuls. Die zu jedem Impuls gehörende, entsprechende Gegenkraft (bekannt als „Actio und Reactio“) wirkt dementsprechend nach oben. Diese Kräfte wirken der Schwerkraft entgegen.
Um zu steigen, ist außerdem der Anstellwinkel von Bedeutung, denn er vergrößert die ‚Anprallfläche‘ der Luft auf der Flügelunterseite, was wiederum zusätzlichen Auftrieb erzeugt – das Flugzeug steigt.
Über Höhenflüge
Die Luft in unserem Bild steht für unsere Kunden. Durch sie gewinnen wir unseren Auftrieb. In unseren Turbinen reagieren sie sinnbildlich mit unserem Kapital (Kerosin) und erzeugen so Vortrieb, also Umsätze und Ergebnisse.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten war der Anstellwinkel – also der Wachstumskurs – in vielen Unternehmen sehr hoch eingestellt. Das Kerosin dazu ist billig, die EZB drängt es uns ja geradezu auf. Die Börsenkurse erklommen immer neue Höhen.
Der schnelle Steigflug bis an die Stratosphäre birgt Gefahren in Hinblick auf die Nachhaltigkeit. Er verbraucht überdurchschnittlich viel Kerosin. Die Turbinen laufen ständig unter hoher Last. Überhitzung droht – mit anderen Worten, Burnout bei dem einen oder anderen Mitarbeiter, der unter großer Anspannung steht. Auch die Struktur des Flugzeugs wird belastet. Dahinter steht das Paradigma des Wachstums, dass es umso besser sei, je höher wir fliegen.
Ist das nicht fragwürdig?! Denn letztlich gilt auch: Je höher wir steigen, desto dünner wird die Luft, die ja für unseren Auftrieb sorgt. Für jeden Meter, den wir höher hinauswollen, müssen wir stärker am Höhenruder ziehen und die Geschwindigkeit erhöhen, also mehr Kunden ‚umsetzen‘. Es bedarf zunehmend mehr Mittel, Energie und Aufwand, um den Durchsatz zu generieren – und überproportional dazu steigt der Verschleiß. Es ist leider immer wieder zu beobachten, dass dysfunktionale Prozesse und Qualitätsverluste hingenommen werden, so lange das Unternehmen nach Zahlen noch wächst.
Das beschert zwar ein Unternehmen hoher Effektivität. Aber der Preis dafür ist nicht selten die Effizienz im Unternehmen und die Effizienz am Kunden. Das Pareto-Optimum liegt in weiter Ferne.
Der Höhenflug hat ein zunehmend fragiles, störanfälliges Gleichgewicht der Kräfte zur Folge.
Damit rächt sich jetzt alles, was wir im Vorfeld nicht bedacht haben (z.B. keine Reservenbildung). Schon unter einigermaßen normalen Bedingungen – also VOR Corona – wurde oftmals nicht wirklich langfristig nachhaltig agiert.
Der Schock des Strömungsabrisses
Bisher konnten wir instabile Fluglagen oft kompensieren – mitunter half ein Ausweich-manöver oder dass wir den Kerosinhahn nochmal richtig aufgerissen haben. Stichwort: „Whatever it takes“.
Der Corona-Lockdown jedoch drosselt plötzlich die Leistung der Turbinen (Angebots-Seite). Und er nimmt uns die Auftrieb gebende Luftschicht weg, also unsere Kundschaft (Nachfrage-Seite). Wir fliegen mit einem Bruchteil der Leistung in ein Luftloch. Das Flugzeug sackt durch.
Wer aus der Überraschung dieses exogenen Schocks heraus das Höhenruder auf Anschlag zieht, um so wieder mehr Auftrieb zu erhalten und die verlorene Höhe aufzuholen, der kann eine böse Überraschung erleben. Die Gefahr ist der Strömungsabriss. Am realen Flugzeug entsteht dieser, wenn durch einen zu starken Anstellwinkel Luftwirbel entstehen, die die Umströmung am Flügel kollabieren lassen („Grenzschichtablösung an Tragflügeln“). Der Auftriebsverlust kommt in der Regel sehr plötzlich. Im Unternehmen geschieht das vergleichbar schnell.
Die Folgen des Säbelzahntigers
In der ersten Phase des Schocks reagieren die meisten Piloten im Grunde gar nicht. Sie übergehen das Luftloch mit einem „Das ist nur ‘ne kurze Turbulenz“ oder „Muss ein Instrumentenfehler sein“. Das ist Starre – freeze.
Je mehr sie dann doch bemerken, wie sie Höhe und Geschwindigkeit verlieren, desto mehr steigt die Angst in ihnen hoch. Das Höhenruder wird herangezogen, um die verlorene Höhe auszugleichen – der Strömungsabriss folgt. Parallel werden die Luken geöffnet: „Wenn wir Ballast abwerfen, dann sollte der Auftrieb noch reichen“. Und so werden im Cost-Cutting-Eifer Gepäck und Crewmitglieder (die ja nur den Service für die Passagiere bzw. Kunden machen ;-)) über Bord geworfen. Das lässt sich auch als Fluchtverhalten beschreiben – flight.
Wenn auch das nicht hilft – und Sie ahnen schon, was kommt –, dann werden die Triebwerke nochmal auf Volllast gebracht. Es wird Kerosin eingeblasen bis die Tanks fast leergesaugt sind. Aber das Kerosin zündet nicht – die Luft fehlt ja, es entsteht kaum Vortrieb. Manche Flieger haben noch Hilfstriebwerke (Geschäftsfelder, die sonst eine Nebenrolle spielen und nur mitlaufen), die man nun ebenfalls mit viel Kerosin auf Performance bringen will. Der Effekt ist der Gleiche. Das Ganze gleicht einem verzweifelten Kampf – fight.
Schließlich, wenn das Flugzeug vornüberkippt und sich die Nase schon fast senkrecht zum Boden neigt, greift der Pilot zum Funkgerät: „Tower (Staat/Politik/EZB), hier Ikarus AG, Mayday, Mayday, wir schmieren ab und haben kein Kerosin mehr“. Angst macht sich breit – fright.
Diese 4 kurzen Verhaltensmuster sind angelehnt an das, was der britische Psychologe Jeffrey Gray in der Sequenz „Freeze – Flight – Fight – Fright“ (4F) beschrieb; zu Deutsch „Starre – Flucht – Kampf – Furcht“. Es ist eine Art archaischen Programmcodes, ein einfaches, monokausales Reiz-Reaktions-Schema für unseren Umgang mit einer einzelnen Gefahrenquelle – meistens einem (Fress-)Feind wie ehedem dem Säbelzahntiger. Das Verhaltensmuster ist indes für komplexe und dynamische Systeme wie die Steuerung eines Flugzeugs oder unser Wirtschaftsleben nicht unbedingt geeignet.[1]
Wenn wir Nachhaltigkeit mal vor allem in Bezug setzen auf die Fortexistenz eines Unternehmens und seine Überlebensfähigkeit bei Krisen, wenn wir Nachhaltigkeit weiterhin als Verantwortung gegenüber dem System ‚Unternehmen‘ mit all seinen Mitarbeitern betrachten, dann werden wir erneut feststellen, dass es um die Nachhaltigkeit etlicher Unternehmen schon vor Corona nicht so gut bestellt war. Jetzt geht Ihnen – im wahrsten Sinne der Flugzeugmetapher – schnell die Luft aus.
[1] Lesetipp hierzu: Dietrich Dörner, „Die Logik des Mißlingens: Strategisches Denken in komplexen Situationen“
Patch? Update? Release!
Der Corona-Lockdown mitsamt seinen Folgeerscheinungen greift nach meiner Auffassung sehr fundamental in unser Wirtschaftssystem ein und wird bleibende Spuren hinterlassen – in den Geldbeuteln, im Konsumenten-Verhalten, im Arbeitsleben, im Kreditwesen, in der Supply Chain usw.
Ich sehe den Corona-Lockdown als Chance für die Nachhaltigkeit der Unternehmen. Das ist kein Zynismus, sondern meine feste Überzeugung – vorausgesetzt, die Signale werden richtig verstanden und in der Pilotenkanzel die passenden Entscheidungen getroffen.
Ich plädiere für einen kontrollierten Sinkflug, bis sich ein Niveau mit tragfähiger Luftschicht findet. Ja, viele Unternehmen müssen ihre Ziele erstmal deutlich tiefer hängen als es Ihnen lieb ist. Diese Botschaft müssen sie auch offen und ehrlich an Belegschaft, Stakeholder und ggf. Aktionäre senden. Und dann muss man sich natürlich schon überlegen, ob es die Awareness fördert, wenn auf 100% Gehalt aufgezahlt wird, während die Umsätze um 50% gefallen sind. Nicht, dass ich den Mitarbeitern ihr Gehalt nicht gönne, aber ist das das richtige Signal kurz vor dem Strömungsabriss?
Während des Sinkfluges braucht kein Kerosin unverbrannt durch die Turbinen gejagt zu werden. Die Arbeit muss v.a. im Cockpit stattfinden: Wo finde ich die tragfähige Luftschicht? Wie fange ich die Maschine wieder auf? Welche Turbinen zünde ich dann wieder und wie stark? Welche Turbinen kann ich reparieren und welche kosten mich mehr Sprit als dass sie Leistung brächten?
Das ist mehr als Flickschusterei am Geschäftsmodell, hier geht es um eine rationale Bereinigung, an deren Ende ein ganz neuer Release des eigenen Programmcodes stehen kann. Das gilt in emotionaler Hinsicht ähnlich.
Für diese Bereinigung – nach der Krise – gibt es ein schönes Wort: Katharsis!
Take back control – dieses Mal wirklich …
Was bedeutet das konkret?
- Verlieren Sie keine Zeit, die Ihnen vor dem Strömungsabriss zum Agieren bleibt!
- Awareness für die Tragweite der Situation! Die Umwelt verändert sich schnell. Antizipieren Sie die Implikationen auf das Unternehmen.
- Emotionale Lufthoheit! Seien Sie kritisch gegenüber sich selbst, um das Geschäftsmodell und liebgewonnene Aktivitäten / Produkte in Frage zu stellen! Können Sie loslassen von dem, was uns morgen keinen Mehrwert bringt?Übernehmen Sie die Verantwortung, im Sinne des Ganzen unbequeme Entscheidungen zu treffen und die dazugehörigen Aufgaben voranzutreiben!
- Rationale Lufthoheit! Beschäftigen Sie sich mit dem Geschäftsmodell und den neuen Rahmenbedingungen. Vergessen Sie die guten Gründe, warum Ihr Flieger bisher stabil in der Luft lag – die Umstände sind jetzt andere! Seien Sie kompromisslos in der Analyse, worin der Nucleus der Geschäftsaktivitäten liegt, der Sie in die Höhe gebracht hat. Worin sind Sie wirklich besser sind als die anderen? Was ist dieser Nucleus morgen wert?
Wo sind andererseits die kritischen Themen, trotz – nicht wegen – derer Sie immer höher geflogen sind? - Katharsis: Wie wollen Sie zukünftig fliegen? Arbeiten Sie an Ihrer neuen Fluglage und Flugroute! Instruieren Sie Ihr Bordpersonal und Programmieren Sie die neue Steuerungssoftware.
- Löschen Sie den uralten 4F-Programmcode! Besonders der Abschnitt Flucht ist verführerisch, aber ist es sinnvoll, das gleiche Geschäftsmodell weiter betreiben zu wollen – nur auf niedrigerem, quantitativem und/oder qualitativem Niveau?
- Hüten Sie sich vor wirren Funkverkehr. Neben Ihnen wird es jede Menge Hobby-Piloten geben, die es gut meinen, aber nicht viel vom Fliegen verstehen oder Ihre eigenen Interessen verfolgen.
- Suchen Sie sich einen unbefangenen Kampf-Piloten,
- … der unbefangen ist.
- … der mit Ihnen die Lage von Flugzeug, Pilot und Personal analysiert und als Ihr Co-Pilot die nächsten Flugziele avisiert.
- … der hilft, dass Sie die Nummern 1-7 ein- und durchhalten. Für die meisten Piloten ist es weniger das Problem, die Schlüssigkeit der Schritte zu verstehen. Es ist vielmehr, die Klarheit, Bereitschaft und Konsequenz, gegen alle Kräfte diesen Weg zu gehen. Von dem her brauchen Sie keinen ‚Chef-Theoretiker‘ und schon gar keinen, der das Fliegen nur vom Simulator kennt. Sie brauchen einen gestählten Kampfflieger, der nicht in Fluchtmuster zurückfällt und mit Ihnen schnell die Idee des neuen Programmcodes entwirft.
…und was, wenn es ein falscher Alarm ist?
Was, wenn der Corona-Lockdown doch nur ein ganz kurzes Stottern der Turbinen ist, wenn es bei einer vorübergehenden konjunkturellen Delle bleibt? Was, wenn ich mich irre?
Gegenfrage: Was sollte Sie dann gleichwohl davon abhalten, ihr Geschäftsmodell auf Herz und Nieren zu prüfen und ein Auge auf die Qualität der Produkte, Personen und Prozesse zu werfen? In der Luftfahrt werden die Piloten regelmäßig mit simulierten Krisensituationen konfrontiert, daran kann man sich ohne weiteres ein Beispiel nehmen.