Flache Hierarchien: Kann in unserer Führungskultur wirklich jeder Chef sein?
Flache Hierarchien sind ein populäres Thema für Unternehmen ebenso wie für Management-Wissenschaftler und Berater. Viele Firmen werben mit einer Führungskultur, die durch ein geringes Maß an Hierarchieebenen sowie kurze Kommunikations- und Entscheidungswege geprägt ist. Bewerber messen im Umkehrschluss die Attraktivität eines potentiellen Arbeitgebers daran, ob diese Kriterien erfüllt sind.
Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob im Rahmen flacher Hierarchien jeder Mitarbeiter Chef ist oder sein kann. Einige Wirtschaftsautoren meinen: „Ja“ – und fühlen sich in dieser Sicht durch diverse Beispiele aus der praktischen Unternehmenswelt bestätigt. Wir meinen, dass die Sache mit den Hierachieebenen sowie dem Chef-Sein nicht ganz so einfach ist. Völlig führungslos funktionieren weder Teams noch ganze Unternehmen.
Treibt die Abwesenheit von Hierarchieebenen Innovationen?
Tim Kastelle ist ein australischer Wirtschaftswissenschaftler, der an der Business School der Universität von Queensland über die Rahmenbedingungen für Innovationen forscht. In einem Artikel für den „Harvard Business Manager“ vertritt er die These, dass flache Hierarchien das Unternehmensmodell der Zukunft sind. Die gegenwärtige Führungskultur beruhe seiner Meinung nach auf drei impliziten Grundannahmen:
- Ohne Hierarchie auch kein Erfolg.
- Mitarbeiter, die operativ tätig sind, haben einen geringeren Status als Entscheider.
- Unternehmen, die sich nicht an diese Normen halten, werden auf lange Sicht wahrscheinlich nicht florieren.
Kastelle präsentiert als erfolgreiche Gegenbeispiele Firmen, die sich von komplizierten Hierarchieebenen verabschiedet haben: Die Mitarbeiter von „Automatic“, dem Entwickler der global präsenten Blog-Software „WordPress“, arbeiten ausnahmslos von zu Hause oder von unterwegs, wofür sie flache Hierarchien brauchen. Die Fundraising-Gruppe „Second Chance“ hat keinerlei formale Hierarchien und auch keinen Chef, geleitet wird sie durch ein Management-Komitee. Aus Kastelles Sicht eignet sich ein solches Konzept keineswegs nur für Start-Ups oder nicht gewinnorientierte Unternehmen. Der US-amerikanische Konzern W. L. Gore ist in seiner Branche Weltmarktführer. Formale Hierarchieebenen hat es trotz weltweit 8.400 Mitarbeitern bei W. L. Gore nie gegeben. Das Unternehmen lehnt konventionelle Führung völlig ab, Mitarbeiter sind Associates/Partner, die auf Projektebene kooperieren. Für den jeweiligen Projektzeitraum werden die Führungskräfte von ihren Teams gewählt.
Tim Kastelle sieht flache Hierarchien als besonders vorteilhaft für Unternehmen an, deren Umfeld sich schnell verändert, deren Hauptdifferenzierungsmerkmal zum Wettbewerb in Innovation besteht und die Organisation tatsächlich ein gemeinsames Ziel hat. Diesen Firmen bescheinigt er höhere Entwicklungs- und Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings sind sie bisher in der absoluten Minderheit, was sowohl auf objektiven Schwierigkeiten, bestehende Organisationsstrukturen zu verändern, als auch auf diversen „mentalen“ Faktoren (Angst vor dem Ungewohnten, fehlender Glaube an die Demokratie am Arbeitsplatz) beruhe.
Flache Hierarchien: Mehr Effizienz durch größere Mitarbeiterzufriedenheit?
Auch ein Artikel in der „Wirtschaftswoche“ plädiert für flache Hierarchien – allerdings zum Teil aus anderen Gründen. Im Vordergrund der meisten großen Unternehmen steht ihre Attraktivität für Bewerber der Generation Y, die sich in der tradierten Führungskultur nicht wiederfindet. Flache Hierarchien dienen hier primär dazu, die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu erhöhen und damit ihr Potential zu heben. Als Paradebeispiel kann hierfür Google mit seiner Mischung aus Effizienzkultur und Freizeitlandschaft gelten. Die „Firmen ohne Chef“, in denen das Prinzip gilt, dass jeder führen kann, verorten die Autoren dagegen vor allem im Mittelstand sowie in der alternativen Gründerszene und bewerten sie im Übrigen als durchaus erfolgreich.
Führung und Organisationsformen sind nicht dasselbe
Aus unserer Sicht sitzen sowohl Tim Kastelle als auch die „wiwo“-Autoren einem Irrtum auf. Führungskultur und Organisationsformen in Unternehmen sind nicht dasselbe – und werden in beiden Publikationen synonym gebraucht. Auch in Firmen wie W. L Gore gibt es Hierarchien – dass es nicht sehr viele sind, spielt dabei zunächst keine Rolle. Ebenso sind „viele Hierarchieebenen“ und „autoritative bzw. direktive Führungsstrukturen“ keine Synonyme. Auch Unternehmen mit flachen Hierarchien können autoritär geleitet werden – und eine Organisation mit vielen filigran verzweigten Hierarchieebenen demokratisch.
Der Erfolg eines Unternehmens beruht nicht auf seiner konkreten hierarchischen Struktur, sondern auf seiner Führungskultur – und eine solche ist beispielsweise auch bei W. L. Gore gegeben: CEO Terri Kelly zielt genau darauf ab, wenn sie „verantwortungsbewusste und handlungsfähige Individuen“ als die Grundvoraussetzung für den Erfolg der gesamten Organisation herausstellt.
Abgesehen davon: bei Abwesenheit formaler Hierarchieebenen bilden sich in der Regel sehr schnell informelle Hierarchien, die oft sehr viel autöritärer funktionieren.
Wir sagen: Die Funktionsfähigkeit eines Unternehmens beruht primär auf Führung – Partizipation der Mitarbeiter daran ist durchaus erwünscht. Gute Führung schafft, das intrinsische Motivationspotential jedes einzelnen Mitarbeiters im Sinne der Unternehmensziele zu aktivieren. Die Grundvoraussetzung dafür sind nicht flache oder keine Hierarchien, sondern ein optimales Zusammenspiel von Autonomie, Verantwortung und Führung, Feedback und Anerkennung sowie erfahrene Sinnhaftigkeit am Arbeitsplatz.
Fazit:
- Der Erfolg eines Unternehmens beruht auf seiner Führungskultur und nicht auf seiner hierarchischen Struktur.
- Ohne Führung kommt kein Unternehmen aus – gute Führung aktiviert das Potential sowie die intrinsische Motivation jedes einzelnen Mitarbeiters.
Quellen:
http://www.harvardbusinessmanager.de/meinungen/artikel/management-flache-strukturen-sind-ratsam-a-937567.html
http://www.wiwo.de/unternehmen/dienstleister/mitarbeiterfuehrung-raus-aus-dem-einheitsbrei/9282382.html
http://en.wikipedia.org/wiki/Job_characteristic_theory#Scientific_management
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arbeitsmotivation_nach_Hackman_und_Oldham.svg